Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe, mit Zitaten aus Christoph Ahlers Buch: Vom Himmel auf Erden – Was Sexualität für uns bedeutet.
Christoph Ahlers: Vom Himmel auf Erden
Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe, mit Zitaten aus Christoph Ahlers Buch: Vom Himmel auf Erden – Was Sexualität für uns bedeutet. München 2017
Dienstag, 3. Dezember 2019
Guten Abend
Wir reden heute über ein Thema, das nicht so einfach ist, weil es immer noch tabui-siert ist oder sehr einseitig besprochen wird. „Sexualität ist für viele mit Selbstunsi-cherheit und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden.“ (S. 35)
1. Schwierigkeiten in der Sexualität
Der Autor des Buches, über das wir heute sprechen, Christoph Joseph Ahlers mit dem Titel Vom Himmel auf Erden Was Sexualität für uns bedeutet erklärt: „Meist wird in Freundschaften nach wie vor nur allgemein, also wenig konkret gesprochen. Wenn, dann meist in zotigen Witzen oder plakativen Schilderungen. Über das eigene Erleben und Verhalten zu sprechen, vor allem über die eigenen Wünsche und Be-dürfnisse, aber auch über die Ängste und Befürchtungen, das geschieht auch in Freundschaften selten.“ S. 35
Am letzten Freitag war ich bei Vorträgen von TED Talk. Es gab auch einen Vortrag über Sexualität und dort kam auch die weitverbreitete Meinung – auch bei Sexualthe-rapeuten – zum Ausdruck, dass es zwar darum geht, miteinander über Sexualität zu sprechen, aber man legt oft nahe, dass man dabei vor allem seinen Phantasien freien Lauf lassen und dass man vor allem über die Art der sexuellen Stimulation reden sol-le und wie man zu mehr Erregung komme. Meist schlägt man dabei vor, dass man mit verschiedenen Stellungen in der Sexualität und mit allen möglichen Hilfsmitteln einander mehr Erregung zukommen lässt.
Ahlers merkt kritisch an, dass seit dem 21. Jahrhundert sogar eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Sexualität entstanden sei, die darin besteht, dass viele im In-ternet Pornografie gesehen hätten und in den Bildern ein Vorbild bekommen habe. Er schreibt: „Durch Pornografie im Internet haben sich pornografische Modelle und Selbstkonzepte entwickelt. Man erkennt das an verschiedenen Symptomen: Kör-perenthaarung, Intimrasur oder Intimchirurgie“. (S. 36). Und weiter meint er: „Das Nachturnen einer sexuellen Choreografie, die durch Internetpornografie erworben worden ist, ist mit der Vorstellung verknüpft: So geht es.“ „So produziere ich guten Sex“. Viele meinen, dann sei man ein guter Lover. Viele denken und empfinden für sich und heimlich: «Mache ich das nicht so und beherrsche die einzelnen Praktiken und Stellungen nicht, bin ich „nicht gut im Bett“. Und es kann so weit gehen zu meinen, dann sei « der Sex schlecht», man sei ein Looser oder Versager, wenn man das nicht zustande bringt. (S. 23 ff)
Wenn ich glaube, nicht zu genügen, mich beweisen zu müssen, dann fange ich an zu agieren. Ich tue dann nicht, was mir guttut, sondern fange an, sexuelle Strickmuster abzuarbeiten. Pornografie macht genau das vor: Eine fiktionale Darstellung von Se-xualität, eine beziehungslose sexuelle Interaktion in Form von genitaler Stimulation. Sie dient nur dazu, Erregung hervorzurufen. Der Kontakt von ein oder mehreren Menschen ist auf Orgasmusproduktion reduziert. Jede Intimität wird dabei vermie-den.
2. Sex als Mittel, um geborgen, angenommen und zugehörig zu sein
Ahlers schlägt bei der Betrachtung der Sexualität eine ganz andere Richtung ein. Er meint, einem solchen Ansatz fehle es am Wesentlichen: Nämlich es fehle das Hin-schauen und Zuhören, im Verbalen wie im Körpersprachlichen. Diese Fähigkeit ist nur möglich, wenn das Selbstwertgefühl das ermöglicht. Das erlaubt eine Öffnung gegenüber dem anderen.
Ahlers titelt deshalb im 1. Kapitel seines Buches: Erlösung durch Überwindung von Vereinzelung- Sex als Kommunikation
Ahlers bezieht sich in seiner Betrachtung der Sexualität auf die Vorstellung von Aris-toteles, dass wir Menschen uns gerne in Zweierbeziehungen zusammenschliessen in einer sogenannten Syn-dyade. Dies tun wir, weil wir in Paarbeziehungen die psycho-sozialen Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit, Angenommensein und Geborgenheit besonders gut erfüllen können.
Diese ganz neue Art, Sexualität innerhalb der Sexualwissenschaften zu sehen, ent-stand erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Am Hamburger Institut für Sexualforschung unter Kurt Karl Loewit wiesen die Forscher darauf hin, dass Sexua-lität nicht einfach der Lust und der Fortpflanzung dient. Sie hoben eine dritte Funk-tion der Sexualität hervor, die als Beziehungsfunktion beschrieben wurde. Ahlers baut darauf auf und arbeitet mit dem klinischen Konzept einer beziehungs- und kommunikationsfokussierten Sexualtherapie.
3. Das Konzept der Beziehungsfunktion von Sexualität
Woraus besteht das Konzept der Beziehungsfunktion?Ahlers schreibt dazu:
3.1. Sex und Beziehung seien wesentlich miteinander verbunden. Das Verständnis dafür fehlt in unserer Kultur weitgehend. (S. 412)
3.2. Sexualität sei die intimste Form der Kommunikation, die uns Menschen zur Ver-fügung steht. (S. 14 ff)
3.3. Sexualität sei die Möglichkeit, über den intimen Körperkontakt elementare Mit-teilungen zu machen und zu empfangen.
3.4. Sexualität sei Körperkommunikation zur Erfüllung psychosozialer Grundbe-dürfnisse: Wahrgenommen, ernstgenommen und angenommen zu werden. Sie kann das Bedürfnis stillen nach Aufmerksamkeit und Beachtung, Zuneigung und Zuwen-dung, nach Zugehörigkeit und Geborgenheit, nach Sicherheit, Vertrauen und Nähe.
3.5. Sexualität sei die intimste Möglichkeit, durch die man diese Grundbedürfnisse körperlich und seelisch zugleich erfahren und erleben kann.
3.6. Man könne über Sexualität mitteilen, dass wir einander annehmbar, richtig und gut, im Idealfall auch schön, anziehend und begehrenswert finden.
3.7. Dieses Gefühl wollen wir geben und bekommen. Wir wollen fühlen, dass uns jemand gut findet. Wir möchten spüren, dass uns der andere in sich lässt und in sich aufnimmt oder in uns dringen will. Das ist die tiefere Bedeutung von Küssen und Miteinander-Schlafen.
3.8. Dieser Vorgang bereite Erregungs- und Lustgefühle und könne durch einen Or-gasmus verstärkt werden. Sex sei also nicht einfach ein Trieb oder geil oder ergibt sich spontan oder nicht.
3.9. Erregung und Fortpflanzung seien gegenüber der Intimkommunikation nach-rangige Funktionen von Sexualität. Im Wesentlichen gehe es bei Sexualität um Ver-ständigung und um die Frage, wie wir auf sexuelle Weise in Kontakt treten und uns austauschen können. Also darum, wie wir Beziehungen auch im Sexuellen führen.
3.10. Neben Lust und Leidenschaft gehe es im Sexualleben um die Erfüllung des Wunsches, jemanden neben und bei sich zu haben und sich besonders verbunden zu fühlen. Sex ist also vorrangig beziehungsstiftend und bindungsstabilisierend.
3.11. Sex könne uns auf unvergleichlich intensive Weise das Gefühl geben, dass wir richtig und in Ordnung sind.
3.12. Die tiefere Bedeutung von sexueller Vereinigung sei die Erlösung durch Über-windung von Vereinzelung.
3.13 Sexualität sei aus diesen Gründen heraus eine Quelle von Lebendigkeit, Lebens-freude und Glück.
4. Folgerungen aus dem Konzept der Beziehungsfunktion von Sexualität
4.1. Durch sexuelle Erregung mit einem Partner könne ein Gefühl von Angenom-mensein intensiviert werden. Deshalb geht es in einer längeren partnerschaftlichen Sexualität nicht nur um einen intimen Körperkontakt oder geteilte sexuelle Erregung. Bei diesem Vorgang geht es stattdessen um das Gefühl, zu erleben und zu geben: «Ich mag dich!» «Ich will dich».
4.2. Die Sexualisierung des Körperkontakts ist eine Erweiterung und Vertiefung des Gefühls von Angenommensein und Geborgenheit. Man könne sich nicht nur durch sexuelle Erregung geliebt und angenommen fühlen und könne sich nicht nur durch Orgasmen beruhigen und entspannen.
4.3. Sexuelle Handlungen könnten in Bezug auf das Angenommensein immer Ver-schiedenes bedeuten. Sex sei nicht gleich Sex. Beim Geschlechtsverkehr als Prostitu-tion gehe es vor allem um die sexuelle Stimulation. Sexualität ist jedoch eine Spra-che. Sie kommt nicht durch spezifische Sexhandlungen oder Praktiken zum Aus-druck, sondern durch die Art und Weise, wie Sexualität stattfindet; nämlich weniger oder stärker kommunikativ. Man kann mehr oder weniger beim anderen sein.
4.4. Im Körpersprachlichen gibt es Analphabeten und Sprachakrobaten. Die Sprache der Sexualität könne man nur in Beziehung erlernen. Es ist schwer, nichtverbale Bot-schaften wahrzunehmen und erschliessen zu können. Es fehlt meistens das Verständ-nis, dass wir im Sexuellen verschiedene Grundbedürfnisse ausdrücken und erfüllen können. Es fehle dafür am kulturellen und gesellschaftlichen Bewusstsein.
4. 5. Bei jedem neuen Partner lerne man diese Sprache neu.
Automatismen, auf stereotypische Art in Verbindung zu treten, seien Ausdruck von Verunsicherung, Selbstunsicherheit und dem Gefühl von Hilflosigkeit und Überfor-derung, bezogen auf die eigenen Bedürfnisse und die des anderen. (S. 22 f). Das ste-reotype Herantreten zeigt auf, dass man den anderen nicht sehen, hören und erfahren kann, was er oder sie eigentlich möchte, wer er oder sie eigentlich ist.
4. 6. Es gehe bei der Sexualität nicht darum, sich gegenseitig zu bedienen. Es geht darum wahrzunehmen, wer der andere ist. Und es geht auch darum, diese Einsicht im sexuellen Verhalten zu würdigen und zum Ausdruck zu bringen. Wenn man sich ungesehen, ungeachtet oder gar missachtet fühle, dann vergehe einem auch die Lust, mit dem anderen zu schlafen.
4. 7. Wie entsteht Intimität?
Gemäss Ahlers, können nur die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. ( S.24ff )
Intimität mache die Sexualität intensiv und erfüllend, sie versetze aber viele Men-schen in Angst.
Intimität brauche ein gesundes Selbstwertgefühl. Es darf nie ein Zwang sein, dass etwas geschehen müsse. Nicht die Stimulation und Orgasmusproduktion stehe im Vordergrund. Die intimsten Momente sind oft diejenigen, in denen wenig geschieht: Blickkontakt, sich nackt anschauen ohne sofort die Körperdistanz aufzuheben. Viele würden das als kaum auszuhalten beschreiben.
Die Beklommenheit, die dabei entstehen könne, führe dann zu einer Umarmung, um die Körperdistanz aufzuheben. Das würde dann als ungeheuer faszinierend und ver-bindend empfunden. Fehle es hingegen an Bewusstsein für die beschriebene Qualität von Sexualität, so fehle auch die Resonanz in den Augen des anderen und jeder blei-be trotz körperlicher Vereinigung für sich allein.
4. 8. Sexuelle Beziehungen würden zumeist dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass die partnerschaftliche Kommunikation erodiert. Es wird nicht mehr miteinander übereinander gesprochen. Beide reden allenfalls noch zusammen über das Aussen: Arbeit, Familie, Ferien, Geld, Kinder, Fernsehen. Aber sie sprechen nicht mehr über sich selbst, ihre Gedanken und Gefühle, bezogen aufeinander und ihre eigene Bezie-hung. Es wird geredet, aber nichts gesagt.
Wenn ich in einer Beziehung das Gefühl habe, dass der andere sich nicht für mich interessiert, dass er mich nicht wichtig findet, sondern nur sein Ding durchzieht, dann fange auch ich an, mein eigenes Ding durchzuziehen.
Deshalb vergehe uns die Lust mit dem anderen zu schlafen und nicht etwa, weil wir uns schon so gut kennen oder weil visuell der Anreiz des Neuen und Unbekannten fehlt, wie das vordergründig oft dargestellt wird. Der Körper des anderen ist keine Seife, die sich nach mehrmalige Nutzung verbraucht. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Sexualleben liege nicht an einem Abnutzungseffekt des körperlichen Attrak-tivitäts-Empfindens, sondern dass die meisten von uns nicht gelernt haben, Bezie-hungen durch Kommunikationzu führen. Das bedeutet, miteinander in Kontakt und im Austausch zu bleiben und sich auseinanderzusetzen – vor allem auch übereinander. Zum Beispiel sich zu fragen, wer der Mensch neben mir auf dem Sofa ist.
4. 9. Wie verhält sich Sexualität zur Paarzufriedenheit? (S. 25)
Normalerweise divergiert Sexualität und Partnerschaft nicht. Die Qualität der part-nerschaftlichen und der sexuellen Beziehung spiegeln sich wechselseitig wider. Das liegt an Folgendem: Wenn ich mich als Mensch in meiner Beziehung gemeint, gese-hen und gewollt fühle, dann erlebe ich genau das auch in sexueller Hinsicht. Und umgekehrt: Wenn ich mich in sexueller Hinsicht angenommen und gemocht fühle, dann fühle ich mich auch als Partnerin und als Partner angenommen. (S. 25)
4.9.1. Eine Befragung von Hunderten von Paaren durch einen kanadischen Sexu-alpsychologen ( S. 431) zur sexuellen Zufriedenheit bei Paaren ergab
Folgendes:
Sexuelle Leistungsfähigkeit spielt für die sexuelle Zufriedenheit bei Paaren so gut wie keine Rolle: Quantitative Parameter wie Busen- und Penisgrösse, Häufigkeit und Dauer von Geschlechtsverkehr, Vielfalt und Abwechslung sexueller Praktiken und Stellungen sind nicht entscheidend.
Viel wichtiger waren: Aufmerksamkeit, Wachheit, Echtheit, mentale und emotionale Präsenz des anderen, Nähe, Vertrauen, Intimität und Transzendenz.
4.9.2. Kompliziert daran ist jedoch ( S.24 ff ), dass es in der Regel so sei: Männer wollen oft durch Sexualität Nähe herstellen und Frauen brauchen Nähe, um Sexuali-tät haben zu können. Gelingende Kommunikation ist der einzige Schlüssel, um Ge-schlechterdifferenzen und wechselseitig versperrte Türen zu öffnen.
Ein Beispiel für solche Missverständnisse ist:
Sie will keine Sexualität. Er kommt nicht mit zu den Schwiegereltern. Sie streiten über den Besuch, aber in Wirklichkeit fühlt er sich nicht angenommen. Er kann es nicht bewusst wahrnehmen, was ihn antreibt und deshalb kann er auch nichts sagen. Sie versteht es deshalb auch nicht.
Falls sie erkennen, dass er sich durch ausbleibenden Sex, nicht angenommen fühlt, dann versanden Argumente des Mannes mit solchem oder ähnlichem Sinn: «Ein Mann braucht eben Sex, weil er sonst einen Stau bekommt». Das sind jedoch abstru-se Körpersensationen, ähnlich, wie wenn man sagen würde: «Ich muss weinen, weil sonst meine Tränendrüsen platzen».
Es gibt physiologisch keinen Samenstau, deshalb auch keinen Druckanstieg, deshalb auch keine körperlich bedingten Schmerzen. Ungebrauchte Spermien werden resor-biert oder durch eine nächtliche Erektion kommt es zu einem spontanen Samener-guss. „Hier gibt es ja nie Sex“, ist eine Reklamation dieses Mannes. In dieser Situati-on leidet der Mann unter einem «Gefühlsstau», nicht unter einem Samenstau.
Der Mann leidet stattdessen unter dem Gefühl, bei seiner Frau nicht anzukommen, von ihr nicht angenommen zu werden. Er meint, Anerkennung würde er erleben, wenn sie mit ihm schläft,
Die Frau sagt ihm: «Wenn Du mich nie fragst, wie es mir geht, nie schaust, womit ich mich eigentlich beschäftige, wenn Du Dich nie an etwas beteiligst und Dich nicht interessierst, dann interessiere ich mich auch nicht dafür, am Abend mit Dir zu schla-fen»
So missverstehen sich Mann und Frau. Die Erfüllung von Grundbedürfnissen werden dabei gegenseitig frustriert. Beide können ihre eigenen Bedürfnisse nicht wahrneh-men und nicht formulieren, geschweige denn sie wechselseitig berücksichtigen und erfüllen.
Wenn bei beiden ein Gefühl von Beachtung und Wertschätzung entsteht, stellt sichsie wie andere Menschen auch wieder Lust aufeinanderein.
5. Die therapeutische Herangehensweise in der Sexualtherapie
Als Therapeut ist es wichtig, das Paar über vieles aufzuklären, unter anderem dies:
5. 1. In der Sexualtherapie geht es nicht um generelle Überlegungen zur Genderfrage oder das generelle Geschlechterverhältnis, sondern es geht darum, wie das Paar ihre Beziehung besprechen kann.
5.2. Ein Paar, das unter fortgesetzten Konflikten und Streitigkeiten leidet, unter ei-ner fortgesetzten Rollenzuweisung, unter einer starren Opfer-Täter-Dynamik und permanentem „Aber Du Anklagen“, braucht ein Bewusstsein dafür, dass es kein Ver-brecher-Paar ist, weil es weder Opfer noch Täter gibt. Beide sind Leidtragende einer nicht funktionierenden Beziehungskommunikation, beide sitzen in ein und demsel-ben Boot, drehen sich aber im Kreis und rudern in verschiedene Richtungen.
Wenn in der Sexualtherapie diese Einsicht reift, sieht man das schon in der Körper-sprache der beiden. Sie schauen einander an, häufig mit einem Schmunzeln.
5.3. Das Problem in der Sexualität zeigt sich in fehlendem Körperkontakt, ausblei-bender Zärtlichkeit und Intimität sowie nicht stattfindendem Sex. Es ist dabei wich-tig für ein Paar zu verstehen, dass es nicht darum geht zu verhandeln: Zum Beispiel, ob sie alle 10 oder 14 Tage Geschlechtsverkehr haben oder nicht. Wenn ein Paar das versteht, seien sie nicht mehr auf faule Kompromisse über den kleinsten gemeinsa-men Nenner angewiesen.
Es gibt einen anderen Ansatz als zu verhandeln: Sie lernen, neu aufeinander zuzuge-hen, sich kennenzulernen und neugierig zu werden.
5.4. Wenn das Bewusstsein und der Mut vorhanden sind, sich Fragen zu stellen, in einen Austausch zu treten und im Austausch zu bleiben darüber, was man einander bedeutet, dann gelingt es am ehesten, auch im Sexualleben eine erfüllende Beziehung zu erhalten. Wir können in der Sexualität nur dann etwas Erfüllendes erleben, wenn uns das, was wir in sexuelle Hinsicht wollen und tun, etwas bedeutet. Wenn es mir etwas bedeutet, dem anderen etwas sagt – und uns unsere Beziehung wichtig ist. Da-zu ist es nötig, dass wir miteinander kommunizieren und nicht nebeneinander her oder aneinander vorbeireden und leben. (S. 31)
5. 5. Die therapeutische Herangehensweise in der Sexualtherapie laut Ahlers ist Fol-gende: Man versucht, beide Seiten zu «provozieren» und sie damit zu mobilisieren:
Man muss sowohl den Mann fragen, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet und was er – abgesehen vom Sex – eigentlich von seiner Frau will. Ob er nachvollziehen kann, dass seine Frau nicht unbedingt das Gefühl hat, in seinen Wünschen als Person vorzukommen, wenn er wirklich nichts anderes von ihr fordert als Geschlechtsver-kehr wegen Samenstau.
Man fragt die Frau: «Was ist eigentlich das Problem? Warum schlafen Sie nicht mit Ihrem Mann: Tut das weh? Ist es anstrengend oder problematisch? Und wofür steht das?» Sie sagt ja zu ihm: «Ich mache Dir Brot, kaufe auch Bier für Dich», was sie ja nicht zu tun bräuchte, «aber Sex gibt es nicht». Warum wird da bei ihr der Verwei-gerungspflock eingeschlagen? Es geht ja um 20 Minuten Intimität, nicht um eine Koital -Akrobatik, durch die sie am nächsten Tag ermattet wäre.
Diese Vorgehensweise ist immer als Anregung gemeint sein, sich selbst solche pro-vokativen Fragen zu stellen. Es ist keine Aufforderung, etwas tun zu müssen. Es geht dabei um eine niedrigschwellige pragmatische Herangehensweise.
6. Spezifische Fragen zur Sexualität
6.1. Wahnsinnssexualität
Ein solches Erlebnis ist wunderbar. Manche merken jedoch schon nach dem ersten Sex, dass man sich nicht viel zu sagen hat. Solche Beziehungen sind meist nicht von langer Dauer, ausser in Fern – und Aussenbeziehungen. Probleme treten erst auf, wenn daraus ein gemeinsames Leben mit einem gemeinsamen Alltag werden soll.
Die Erklärung dafür, ist, dass beide sich zwar körpersprachlich das Wesentlich sagen können, nämlich ein Ja. Das reicht aber oft nicht für die Etablierung einer festen Be-ziehung. Das eine, die sexuelle Befriedigung, kann das andere, die fehlende Bezie-hung, nicht ersetzen.
Viele kennen das: Dass sie eine sexuell erfüllende Affäre hatten, aber es war partner-schaftlich nicht erbaulich. Und andersherum, eine Partnerschaft, die sexuell nicht so gut war, die aber viele andere Elemente hatte, die stimmig und stabil waren: geteilter Humor, gemeinsame Interessen, kompatibler Freundeskreis. Nicht selten gelingt es, jemanden zu finden, mit dem es passt und zu dem man im Grossen und Ganzen ja sagen kann. Das ist dann Liebe.
6.2. Gibt es den Versöhnungssex?
Durch eine körperliche Wiederannäherung nach einem Streit kann man sich vorüber-gehend von dem angstauslösenden Gedanken befreien, vom anderen abgelehnt und womöglich verlassen zu werden. Es geht dabei um die Furcht vor einem Bezie-hungsabbruch, um die Angst vor Bindungsverlust. Das sexuelle Erleben zeigt dann, dass der andere mich noch will. Das drückt sich dann in der Intensität und Erlebnis-tiefe der sexuelle Interaktion aus.
Wenn die Sexualität dieser Wiederannäherung dient, dann merken die Partner, dass sie trotz Streit mehr Übereinstimmungen als Verschiedenheiten empfinden. Sie mer-ken trotz des Streits, dass sie Zugang zueinander haben und die Zuneigung noch da ist. Das gelingt jedoch selten ohne vorherige verbale Kommunikation.
Die Partner treten danach wieder in einen positiven Austausch, in ein grosses Geben und Nehmen, wodurch sie sich wieder geborgen, zusammengehörig und angenom-men fühlen.
Geben bedeutet: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Anerkennung, Wertschätzung.
Nehmen bedeutet: Wahrnehmen, Ernst nehmen, Annehmen, Rannehmen, Durchneh-men. Das Gefühl von Zusammengehörigkeit fliesst dabei wieder zurück.
Es ist wichtig, Konflikte auszutragen. Viele Menschen kennen sich selbst zu wenig oder wissen nicht, wie man sich in guter Stimmung und verbunden mit dem anderen mit seinen Anliegen einbringen kann. Es kommt dann dazu, dass die eigenen Anlie-gen nur im Streit sichtbar werden für einen selbst oder auch, dass der andere erst dann erfahren kann, was das Gegenüber beschäftigt. Häufig erkennt man in einer Konflikteskalation erst Qualitäten in einer Beziehung, die vorher in einem Menschen erst geschlummert haben. Streit kann deshalb positiv sein, solange ein Paar sonst nicht über sich redet. Wenn man allerdings dauernd streitet, taugt das nicht dazu, sich besser kennenzulernen, sondern verletzt oder erniedrigt sogar,
6.3. Was ist zum Oralverkehr zu sagen?
Man kann eine Verbindung mit einem anderen Menschen herstellen wie bei einer Verschwörung. Dann ist der Oralverkehr nur dazu da, etwas Verbotenes gemeinsam zu unternehmen. Dabei nähert man sich allerdings nicht im gegenseitigen Verstehen an.
Durch die Internetpornografie hat sich der Oralverkehr dahingehend verwandelt, dass es wie ein Pflichtprogramm im Vorspiel erscheint, bevor es zur Vereinigung kommt. Steht diese im Hintergrund, fühlt man sich nicht geborgener und zugehöri-ger.
Zusätzlich kann der Oralverkehr dazu dienen, sich den anderen „vom Hals“ zu halten. Man macht etwas für den anderen oder für sich und nimmt den anderen als Men-schen gar nicht an, sondern will selbst gut dastehen oder versteckt damit, dass man sich entfernt halten will vom anderen.
6.4. Woher kommen Veränderungen im Erleben der Sexualität?
Wie bereits erwähnt spielt gemäss Ahlers die mediale Repräsentation von Sexualität ein grosse Rolle.
Er meint, dass seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine reaktionäre Tendenz in der Wis-senschaft erkennbar sei. Man starrt nur noch auf den Körper und seine Funktionen. Viele glauben, wir seien so etwas wie ferngesteuerte und fremdbestimmte Affen, festgelegt auf den Schienen der Evolution. Es ist zu beachten, dass Nervenbotenstof-fe nicht für unsere Gefühle verantwortlich sind und diese unser Verhalten und Erle-ben bestimmen. Nervenbotenstoffe verbreiten nur, was wir vorher erlebt haben. Neu-rotransmitter generieren keineswegs unser Erleben. Erlebnisse seien Ereignisse, die für uns von Bedeutung sind. Das vermitteln die Botenstoffe. (S. 37)
Die meisten Funktionsstörungen sind massgeblich verursacht durch internalisierten Leistungsdruck und daraus resultierender Versagensangst. Angst entsteht im Gehirn und das Gehirn ist ein Organ. Im Sexuellen haben wir es mit bio-psycho-sozialen Phänomenen zu tun. Es ist immer die Frage, welche körperlichen, sozialen und psy-chischen Faktoren dabei zusammenkommen.
7. Geschichtliche und kulturelle Hintergründe für die einseitige Betrachtung von Sexualität
Sexualität wird meist nur als Erregung oder Fortpflanzungsfunktion betrachtet. Das entsteht aus einer einseitigen kulturellen Tradition, die über die Erziehung unser heu-tiges Fühlen und Denken beeinflusst.
7.1. Schon in der Antike war die Idee vorhanden, dass es sich bei Sexualität um Er-regung und Fortpflanzung handeln würde. (S. 413)
7.2. In der römisch-katholischen Amtskirche wurde die Sexualität seit Jahrhunderten auf Erregung und Fortpflanzung reduziert. Erregung wird als schmuddelig angese-hen.
Fortpflanzung ist dabei erwünscht als Endzweck aller Sexualität. Nur dabei darf auch Erregung entstehen.
Dieses Konzept hat sich bis heute tradiert. Die Kirche koppelte die Erlebnisqualität von der Sexualität ab und nannte sie Himmel. Damit verhinderte sie zu erfassen, dass zwischen der Erregung und der Fortpflanzung die zentrale Qualität von Sexualität liegt: die Intimkommunikation zur Erfüllung unserer Bedürfnisse nach Zugehörig-keit, Angenommensein und Geborgenheit. Diese konnte in der Sexualität nicht er-kannt,bzw. toleriert werden.
Die katholische Kirche legte dann fest, dass man nur im Himmel zu Angenom-mensein, Geborgenheit und Zugehörigkeit komme, sofern man die Regeln eingehal-ten habe, die sie selbst aufgestellt hat. Dazu gehörte ausgerechnet zum Beispiel, dass sexuelle Liebe nicht ausserhalb der von der Kirche gestifteten Ehe und nur zur Fort-pflanzung erlebt werden darf. Konnten die Menschen sich nicht daran halten, muss-ten sie für die Sünden bezahlen – auch in barer Münze.
7.3. Diese einschränkende Tradition zeigt sich auch heute im Sexualkundeunterricht.
Kinder lernen dabei, wie der Penis in die Scheide kommt. Sie lernen nicht, warum ein Mann den Penis in die Scheide einführt und warum die Frau das will.
Sie lernen nicht, dass dies mit Beziehung, Kommunikation und Partnerschaft zu tun hat. (S. 413)
Kindern und Jugendlichen sollte vermittelt werden: Nicht die Schönheit bestimmt, was wir lieben, sondern die Liebe bestimmt, was wir schön finden. (Walter Schubert S. 43). Mit einer solchen Einführung müssten sie sich nicht einem Schönheitskult unterwerfen und sich in Frage stellen. Und sie müssten nicht einfach das scheinbar Richtige erledigen, sondern könnten sich dem anderen zuwenden und sich austau-schen, sich dabei näher kommen und sich gegenseitig besser verstehen.