Innere Unruhe – Nervosität – ADHS: Ursprünge und Auswege bei Kindern und Jugendlichen

Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe, 13. Juli 2021

Sehr geehrte Damen und Herren, guten Abend. Ich freue mich, dass Sie sich alle zugeschaltet haben und hoffe, dass wir uns heute gut verständigen können – in doppeltem Sinn.

Wir befassen uns heute mit einem Thema, das für die psychologische Betrachtung des Menschen insgesamt sehr wichtig ist. Der Titel lautet ja heute: «Innere Unruhe – Nervosität – ADHS: Ursprünge und Auswege». Ich habe es mir überlegt, ob ich ADHS zum Titel dazunehmen soll, weil ich damit in eine zugespitzte Debatte eingreife. Schliesslich habe mich dazu entschlossen. Ich werde zeigen, dass wir sehr gut erklären können, wie ein Mensch in den ersten Lebensjahren unruhig, nervös, gestresst und unaufmerksam werden kann, wenn wir psychologisch denken lernen. Die Aufgabe der Psychologie und in diesem Fall auch der Pädagogik besteht ja darin, nicht einfach ein Problem festzustellen und mit einem Namen zu benennen, sondern die psychologischen Schwierigkeiten im Leben aufzurollen und zu verstehen. und aufgrund dieser Erkenntnisse diese Schwierigkeiten zu beheben. Dies darzustellen ist das Anliegen meiner folgenden Ausführungen.

1. Zusammenfassung

Zunächst gilt generell für die Entwicklung des psychischen Haushalts von jedem einzelnen Menschen folgende Erkenntnis: Die Hunderttausende Erlebnisse in den ersten vier, fünf oder sechs Lebensjahren vermitteln dem Kind ein Bild davon, wie die Welt aussieht. Das Kind deutet alle diese Erlebnisse von Anfang an. Es nimmt die Welt immer mehr so wahr, wie es sie gedeutet hat. Es trifft aktiv, aber unbewusst, eine Auswahl aus der Wirklichkeit. Wie und was es für wichtig hält, wie es fühlen kann, welche Schwerpunkte es für sein Denken und Fühlen auswählt, folgt mit den Jahren immer deutlicher einer eigenen, unbewussten Logik, man kann auch sagen einer privaten Logik. Aber nicht nur das Denken und Fühlen folgt dieser Logik, sondern das Kind versucht auch, in dieser selbst zurechtgezimmerten Welt möglichst so zu handeln, dass es sich vermeintlich gut zurechtfindet. Dabei kann es nicht anders, als sich so zu benehmen, wie es glaubt, am besten durch die Welt zu kommen oder zumindest am wenigsten Nachteile zu haben. Dabei können Überzeugungen entstehen, die für die Lebensbewältigung untauglich oder nachteilig sind, man sagt auch dysfunktional sind.

Unsere Aufgabe als Betroffene, Mitmenschen, als Erzieher, Lehrer und Helfer ist es deshalb nicht, wie traditionell üblich, das Verhalten von einem selbst und anderen möglichst gut zu kontrollieren und zu steuern. Es geht stattdessen darum, mit anderen zusammen zu erfassen, welche unbewusste Gefühls-Logik hinter einem Verhalten steht.

So können wir auch erforschen, welche Eindrücke wir oder andere aus den ersten Lebensjahren mitgenommen haben, so dass wir innerlich unruhig werden mussten. Also auch, welche Erfahrungen dazu geführt haben, dass wir hippelig sind, oder leicht abgelenkt, wir nicht bei einer Sache bleiben oder sie hinausschieben, auch aggressiv werden oder uns schnell in uns zurückziehen und abwesend sind. Wir wollen also verstehen, welche unbewusste Logik dahintersteht und wie sich diese in den ersten Lebensjahren entwickelt hat. Wir wollen nachempfinden lernen, wozu diese Logik dem Einzelnen unbewusst dient und welcher Antrieb sie auch aufrechterhält und welche unverstandenen Anteile verhindern, dass man das Leben gut bewältigen kann. Wenn das nach und nach gelingt, dann können wir die untauglichen oder störenden Gefühlsanteile verändern.

Ich möchte also gerne mit Ihnen heute verschiedene Aspekte durchleuchten, wie es zu einer generellen und anhaltenden inneren Unruhe kommen kann, zu allgemeiner Nervosität, die auch dazu führen kann, dass man sich schlecht konzentrieren kann, sich leicht ablenken lässt, sich schnell aufregt oder anstrengt, dass man Aufgaben liegen lässt, weil sie einem zu kompliziert oder unlösbar erscheinen oder ihre Lösungen vermutlich zu lange dauern und sich dann im Leben verheddert und sich deshalb mit aller Kraft dagegen wehrt, etwas nicht zu können. Und dafür zeige ich Ihnen auch anhand verschiedener Beispiele, wie die Unruhe oder auch das ADS/ADHS entstehen kann.

2. Psychische Situation und AD(H)S

Ich möchte an dieser Stelle ein paar Worte zu ADS und ADHS sagen: Die gerade erwähnten logisch nachvollziehbaren verfehlten Versuche, das Leben zu bewältigen sind schon seit 1785 beschrieben worden. Vor 100 Jahren hat der Tiefenpsychologe Dr. Alfred Adler bereits eine psychologische Erklärung für diese Phänomene geliefert zum Beispiel in seinen Büchern «Kindererziehung» und «Technik der Individualpsychologie 2: Vom Umgang mit Sorgenkindern».

In den 60er Jahren benutzten viele in der Schweiz – im Bemühen, diese Phänomene medizinisch zu erfassen – den Begriff  «Psychoorganisches Syndrom, (POS)», oder in Deutschland  «Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCR)» oder «hyperkinetische Störung». Seit den 1980 Jahren wird dasselbe ADS genannt, also ein sogenanntes Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Zusammen mit extremer Unruhe, der Hyperkinetik, heisst es ADHS.

Diese Bezeichnung wird verwendet unter folgenden Bedingungen: Wenn die allgemein bekannten normalen Stresszustände vorhanden sind wie «angespannt sein», so dass man «schnell abgelenkt» ist und «sich nicht längere Zeit auf eine Sache konzentrieren kann, die einen nicht interessiert». Um als ADS bezeichnet zu werden, müssen diese Phänomene schon seit der Kindheit auftreten, und das Phänomen anhaltend und mindestens 6 Monate vorliegen und in mindestens 2 Lebensbereichen auftreten. Und zudem muss jemand ungewöhnlich starke und nicht zielführende Aktivitäten im Vergleich zu den Gleichaltrigen zeigen.

Wenn ein Kind oder ein Erwachsener zusätzlich merkt, dass es im Leben mit den bisherigen Gefühls- und Denkmöglichkeiten nicht gut weiterkommt und sich dagegen wehrt, indem es sich schnell aufregt, einer unbewältigbar erscheinenden Aufgabe offensichtlich ausweicht, seine Unruhe allen zeigt, dann redet man von hyperaktiv und einige nennen diesen Zustand dann ADHS.

Ich habe die psychiatrischen Begriffe aus den anerkannten Klassifikationssystemen nicht gerne, wenn sie in der Alltagssprache verwendet werden, weil sie viele Menschen dazu verführt, zu meinen, man wisse damit mehr über die Ursachen dieser Phänomene.

Ich bin mir bewusst, dass diese genaue Beschreibung seriösen Ärzten und Psychologen dazu verhelfen kann, dass sie nicht zu oft die Diagnosen ADS oder ADHS stellen. Solche Art von Diagnosen lenken meiner Meinung leider sehr oft davon ab, wirklich herausfinden zu wollen oder herausfinden zu können, was das Kind beschäftigt. Die meisten, die solche Diagnosen benutzen, beschreiben damit nicht einfach die momentane psychische Notlage eines Menschen und die meist untauglichen Versuche der Betroffenen, sich im Leben zurechtzufinden. Sondern sie meinen oft, sie hätten dann mehr ausgesagt, als wenn die Betroffenen, Eltern oder Lehrer beschreiben, dass ein Kind unruhig, zappelig oder angetrieben ist.

Man versteht jedoch nicht mehr von einer Sache, wenn man psychische Zustände mit einem anderen Begriff benennt. Denn ADHS ist nichts anderes als eine klinische Diagnose. Wenn ich es richtig sehe, sind sich alle Fachleute einig, dass es sich dabei nur um eine Benennung handelt, die man gebraucht, um bestimmte Zustände bzw. Symptomkomplexe zu beschreiben und von anderen abgrenzen zu können. Jeder seriöse Forscher und Praktiker wird bestätigen, dass man damit noch nichts über die Ursache aussagt. Auch wenn viele fälschlicherweise glauben, damit sei eine Krankheit beschrieben, die mit einem Medikament zu behandeln sei.

Wir wissen nicht mehr über ein Kind, wenn sich dieses zum Beispiel leicht ablenken lässt und wir dazu dann «Ablenkungsstörung» oder «Aufmerksamkeitsdefizitstörung» sagen, auch wenn der Begriff kompetenter und beeindruckender klingt. Wir wissen auch nicht mehr, wenn wir statt einer extremen Unruhe «Hyperaktivitätsstörung» sagen. Oder wir wissen nicht mehr, wenn ein Kind unruhig ist und meint, es müsse alles im Auge haben und von einer Sache zur anderen geht und wir sagen dazu «Signalstörung» oder «Mangel an einem Reizfilter». Wir können uns dann zum Beispiel ein Teefilter oder ein Fliegengitter vorstellen, aber dieser Begriff sagt nichts darüber aus, wie denn dieser sogenannte Filter im Hirn aussehen könnte und wie es in den ersten Lebensjahren dazu gekommen ist, dass ein Kind nicht unterscheiden kann, was im Moment wichtig und unwichtig ist. Ich meine, wir kommen nur voran, wenn wir verstehen, wie jedes Kind und jeder Erwachsene individuell in solch eine Notlage gekommen ist, dass es in der Welt fast immer angespannt oder misstrauisch ist und dafür ein individuelles Bewältigungsmuster entwickelt hat, das auffällig ist und den Lebensvollzug stark einschränkt.

Ein Aspekt bei der Diskussion um ADHS ist ein faszinierender. Wir erkennen auch hier bei genauer Forschung, dass der menschliche Körper und die Psyche eine Einheit sind. Wenn wir diese Einheit annehmen, dann müssen wir bei jedem psychischen Vorgang auch eine Veränderung in unseren körperlichen Abläufen feststellen können. Eine ganze Forschungsrichtung hat tatsächlich bereits einige körperliche Veränderungen herausgefunden, sobald wir gestresst sind. Dazu gehört eine Veränderung der chemischen Überträgerstoffe, die die elektrischen Signale an den Nervenendungen chemisch zum nächsten Nerv leiten. Man weiss von einer Unterfunktion von Dopamin und vermutlich auch Noradrenalin bei Stress und dass mehr Cortisol gebildet wird und vermutet noch andere sogenannte Neurotransmitter, die sich verändern. Man kann diese Neurotransmitter im Notfall durch Zufuhr von Medikamenten oder Drogen kurzfristig verändern, hat damit aber noch nicht das Problem verändert, das zu vermehrten Stress führt.

Für Betroffene, für Eltern oder Lehrer, die angesichts der Notlage ihres Kindes oder eines Schülers oft verzweifelt sind und sich selbst hinterfragen und sogar Schuldgefühle haben, kann es entlastend sein, wenn man die Nervosität und die innere Unruhe als allgemein bekanntes Phänomen mit einem Namen benennt. So merkt man nicht nur, dass viele andere dasselbe auch kennen, sondern merkt auch, dass man nicht an sich selbst zweifeln muss. Auch derjenige, der solche Antriebe in sich kennt, erhält damit zuerst einmal den Hinweis, dass er nicht «komisch» oder «böse» ist.

Wenn man diese Vorgänge jedoch nicht nur mit ADS oder ADHS benennt, sondern auch eine Krankheit daraus ableitet, bekommt man als Betroffener und auch als Mitmensch leider den Eindruck, dass man nichts oder wenig dagegen tun kann und das lähmt die Möglichkeit, sich selbst oder den anderen besser verstehen zu wollen und zu können. Und deshalb keine Anleitung sucht, wie man das Problem lösen kann. Wenn man den Menschen als Produkt der Evolution betrachtet, erscheint es unlogisch, dass wie bei ADHS 10 % der menschlichen Art genetisch bedingt Normvarianten sein sollen, die im Leben so unruhig und angestrengt sind, dass sie ihr Leben nicht konzentriert und zielgerichtet angehen könnten und einen grossen Teil ihrer Lebensenergie dafür verwenden müssen, sich abzulenken vom eigentlichen Überleben. Viel eher erscheint es evolutionär nur sinnvoll, unruhig und in Stress zu kommen, wenn eine Gefahr lauert und danach wieder entspannt zu leben.

Gerald Hüther und Helmut Bonney haben in ihrem Buch «Neues vom Zappelphilipp» viele wichtigen Informationen zum Thema zusammengetragen.

Ich möchte heute also darlegen, dass diese Nervosität und innere Unruhe psychologisch verstehbar und erklärbar ist, wenn wir uns der freudigen Aufgabe zuwenden, uns jedem Menschen forschend anzunähern. Dann sehen wir auch, dass weder der Betroffene noch der Erziehende schuld an der Situation sind. Und wir sehen aber auch, dass wir den seelischen Haushalt verstehen und in Frage stellen können, wenn daraus Probleme im Leben entstehen. Wir stossen dabei auf untaugliche Gefühlsüberzeugungen und finden zudem «Lebensfallen» vor, die das Leben immer wieder erschweren.

3. Wie kommt es zu einer starken inneren Unruhe?

Halten wir uns noch einmal vor Augen, wie ein Kind auf die Welt kommt:

  1. Das Menschenkind ist evolutionär darauf angelegt, sich in verschiedensten Lebenswelten zurechtfinden zu können. Deshalb wird der Mensch so geboren, dass er ganz offen ist dafür, so zu leben, wie es die vorgefundenen Situation nötig macht. Das heisst, er ist mit einer ausgesprochen hohen Lernfähigkeit im emotionalen und kognitiven Bereich ausgestattet.

Der grosse Teil der Verknüpfungen im Gehirn und damit die Entwicklung der Art, wie man das Leben bewältigt, findet nach der Geburt statt. Dafür braucht es eine besonders grosse Möglichkeit, in einem innigen, anhaltenden Austausch mit nahen Bezugspersonen ein angepasstes Fühlen, Denken und Handeln zu erwerben.

Das Kind ist deshalb darauf vorbereitet, zu kooperieren und die Entwicklung hängt davon ab, ob diese Kooperation zustande kommt und das Kind mit den Eltern in einen innigen Austausch kommt. Sind die Eltern durch ihr eigenes Aufwachsen in ihren emotionalen Fähigkeiten eingeschränkt, im Leben in eine innige und konstante Verbindung zu kommen, dann wird das Kind in seiner vorangepassten Möglichkeit zur emotionalen Nähe und kognitiven Entwicklung eingeschränkt.

Das hat zunächst nichts damit zu tun, wie viel Liebe die Eltern den Kindern geben wollen, sondern in welchem Masse sie in der Lage sind, sich angemessen, spontan und feinfühlig mit dem Kind anzufreunden. Und es hat auch damit zu tun, wie schnell sie sich selbst im Leben überfordert fühlen, wie gut sie sich im Leben geborgen fühlen und wie sie selbst ihr Leben mit anderen teilen können.

Gelingt den Eltern die gefühlsmässige Annäherung nicht, spricht man in der Bindungstheorie davon, dass Kinder unsicher gebunden sind, was zu einem unruhigen, zurückgezogenen und aufgeregten beziehungsweise ängstlichen Lebensstil führen kann.

Sind die Eltern aufgrund ihrer eigenen unbewussten Gefühle oder durch Drogen, massivem Alkoholkonsum oder psychischer Probleme zu wenig in der Lage, auf das Kind konstant einzugehen oder gar mit heftigen Affekten reagieren oder überraschend, emotional unstet handeln, dann entsteht im Kind eine noch stärkere Unruhe, die als desorganisiert beschrieben wird. Genauso gut kann ständiger Streit zwischen den Eltern oder eine ständige Ablehnung des Kindes oder gar Gewalt gegen das Kind so weit führen, dass es kein Vertrauen in sich und die Welt hat, so dass es innerlich immer unruhig ist.

  1. Die emotionale Bindung gelingt dann, wenn die Eltern zu Beginn des Lebens konstant ein verlässliches, ruihges und besonnenes Gegenüber darstellen können. Das heisst, dass sie emotional zur Verfügung stehen, dass sie in der Lage sind, ein freudiges Hin- und Her mit ihrem Kind zu leben, die emotionalen und andere Signale des Kindes aufzunehmen und sie so zu beantworten, dass sie in einer innigen Verbindung das Leben so vorstellen, dass das Kind merkt, dass es wirksam ist und merkt, wie es das Leben am besten löst. Ein Kind fühlt sich dann wohl, wenn es merkt, dass es einen immer grösseren Teil des vorgefundenen Lebens selbst lösen kann, sich leicht Hilfe holen kann, wenn es nicht weiterkommt, und dabei merkt, dass es selbst etwas bewirken kann und sich zudem mit anderen gut abstimmen kann.
  2. Bei diesem Vorgang des Hineinlebens in die Welt können sich viele Fehler einschleichen, die nicht immer massiv daherkommen müssen. Die Eltern und andere Menschen können aufgrund ihrer eigenen unverstandenen spontanen Haltungen zum Leben dem Kind eine unvollständige oder ganz falsche Welt vorstellen und schwächen es damit.

Zum Beispiel kann es sein, dass die Eltern sehr nett zum eigenen Kind sind, aber selbst Vorbehalte oder sogar Angst davor haben, sich mit anderen Menschen näher einzulassen, sich keine Hilfe holen können oder sich bei anderen ganz aufgehoben fühlen. So kann es dazu kommen, dass sich das Kind ausserhalb der Familie immer unwohl und angespannt fühlt.

Es kann aber auch sein, dass Eltern übertrieben Angst davor haben, dass ihr Kind in der Nachbarschaft, im Kindergarten oder der Schule falsch behandelt wird, zu wenig gefördert oder gar abgewiesen wird. Dann glaubt das Kind immer mehr, dass es überall falsch behandelt wird und sich höchstens dagegen wehren kann und jemanden braucht, der ihm recht gibt. Und gelingt das nicht, wird das Kind zurückhaltend oder wird in seiner Not nervös.

Und es kann sein, dass Eltern nicht in der Lage sind, mit dem Kind zusammen herauszufinden, wie es nach und nach selbst Lösungen für die anstehenden Probleme mit anderen Kindern, im Kindergarten oder der Schule finden kann. Gelingt dieser Vorgang nicht, kann sich ein Kind ständig bedroht fühlen, nur weil es merkt, dass die Welt im Allgemeinen nicht so ist, dass alle seine Eindrücke und Befürchtungen bestätigt werden und es davon enthoben wird, sich mit anderen zu verständigen. Es fühlt sich dann sehr oft falsch verstanden und abgelehnt und glaubt auf sich aufmerksam machen zu müssen oder sich zurückzuziehen.

Genauso können Eltern aus lauter Liebe so weit kommen, dass sie möglichst alles so machen, dass das Kind immer Freude hat und sie deren Bedürfnisse gut wahrnehmen, ohne dass das Kind sich selbst selbstverständlich einbringen muss. Ein solches Kind fühlt sich viel zu schnell entwertet und abgelehnt, wird nervös und muss sich eventuell dagegen wehren.

  1. Es können sich aber auch Unsicherheiten im Leben einschleichen, weil das Kind von Anfang an die Welt auf eigene Art und Weise deutet. So kann es sein, dass es anfängt immer mehr zu glauben, es sei besonders schön, wenn es darauf warten kann, dass Mutter oder Vater oder beide auf es eingehen. Wenn die Eltern meinen, das Kind sei von Geburt an so, dass es zurückhaltend ist, dann können sie dem Kind nicht aus dieser verfehlten Betrachtungsweise heraushelfen. Es kann sich einschleichen, dass das Kind selbst sich weniger beteiligt, und dann unruhig und nervös wird, wenn die Eltern sich im Lauf des zunehmenden Alters oder bei Geburt von Geschwistern nicht mehr in gleicher Art und Weise kümmern können und sich das Kind dann abgewiesen fühlt.

Generell bedeutet dies, dass es bei der Erziehung nicht vorrangig darum geht, den Kindern mit der richtigen Erziehungsmethode zu begegnen, sondern sich innerlich mit dem Kind verbinden zu können und dabei immer wieder von Neuem zu erfassen und zu erfühlen, in welchem Gefühlszustand sich ein Kind befindet und nach welchen unerkannten Überzeugungen das Kind, versucht, sein Leben aufzubauen. Das ist ein Teil einer freiheitlich gefühlsverbundenen Erziehung.

  1. Ein Kind versucht auf eigene Art und Weise von Anfang an, eine als unangenehm empfundene Situation zu verändern. Es zieht sich beispielsweise zurück und merkt vielleicht, dass dann die Eltern spontan stärker darauf reagieren. Oder es ist vermehrt ungeduldig oder schreit und sucht damit nach der Aufmerksamkeit der Eltern.

Das kann so weit gehen, dass die Eltern mit grösster Zuwendung ungewollt und ständig einem Kind vermitteln, dass es seine Anstrengungen darin stecken sollte, mit Rückzug oder mit Ungeduldig-Sein oder mit Schreien die Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Fühlen sich dann die Eltern durch dieses unzufrieden scheinende Kind immer mehr abgelehnt und sind weniger spontan oder gar verzweifelt oder immer heftiger, dann wird das Kind noch verstärkt auf diese unbewusste Strategie zurückzugreifen versuchen und auf dieselbe Art und Weise mit Rückzug oder Unzufrieden-Sein oder Schreien noch mehr einfordern.

Das heisst folgendes: Erlebt ein Kind zum Beispiel, dass es sich dann wohlfühlt, wenn liebende Eltern gerne alles schnell oder sogar vorbeugend erfüllen, um das Kind nie unzufrieden zu lassen, ohne dass das Kind sich selbst aktiv beteiligt. Ein solches Kind kann sich vernachlässigt fühlen, wenn es diese Art der liebevollen Zuwendung nicht mehr in gleichem Masse erlebt, allein dadurch, dass es älter wird und nicht mehr alles in gleichem Masse erfüllt wird.

Bei der Geburt eines Geschwisters oder bei anderen Kindern oder in der Schule zeigt sich diese Einschränkung im Fühlen und Denken in besonderem Mass. Das Kind kann dann nicht anders, als unbewusst zu versuchen, die ursprünglich erlebte Gefühlswelt wieder herzustellen, indem es weint, schreit, sich zurückzieht, beleidigt ist. Gelingt es ihm nicht oder nicht vollständig, kann es nervös werden, sich dagegen auflehnen, heftig oder wütend werden, motorisch unruhig werden oder sich zurückziehen, wenn es in seiner Not nicht verstanden wird.

  1. Ich vertrete hier also die Ansicht, dass es nicht darum geht, den Kindern oder den Eltern einen Vorwurf machen zu können oder zu wollen. Wir haben es in unserer Kultur schwer zu erkennen, dass wir nicht irgendeinem Erziehungsstil folgen müssen. Auch wenn es den meisten naheliegt, aufgrund der eigenen Erziehung, nach einer Art zu suchen, durch die es möglichst keine Fehler in der Erziehung gibt. In einer freiheitlichen, gefühlsverbundenen Erziehung geht es darum, sich vorzustellen, was ein Kind oder Jugendlichen innerlich beschäftigt. Und gemeinsam zu erfassen, welche Fehldeutungen des Lebens und welche verfehlte Gefühlslogik hinter einem Fehlverhalten steht. Es geht wie gesagt weder darum, ein Fehlverhalten zu verharmlosen oder positiv umzudeuten noch darum, dieses Verhalten von aussen in eine andere Richtung zu steuern. Es geht stattdessen darum, zu erkennen, welche Gefühlsüberzeugungen hinter einem Symptom stehen, die man zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen verstehen und erfassen lernen kann.

Im Folgenden möchte ich diese Gedanken anhand unterschiedlicher Fallbeispiele von Kindern und Jugendlichen mit einer inneren Unruhe und Ablenkbarkeit darstellen und deren psychische Dynamik kurz umreissen.

4) Beispiele zur Veranschaulichung

1. Beispiel:

Ich beginne mit einem Beispiel, das der Psychoanalytiker Professor Hans Hopp in einem Beitrag auf der homepage der „adhs-konferenz“ dargestellt hat unter dem Titel: «Psychoanalytische Therapie des ADHS», das ich hier noch ausführlicher deute:

Jan stellte sich so dar, dass er mit der Mutter ständige Auseinandersetzungen hatte und bei kleinen Einschränkungen Wutanfälle entwickelte. Danach weinte er sehr, weil er mit der Mutter in einem guten Verhältnis sein wollte und sagte, dass er alles falsch mache. Er hatte zudem Angst vor allen Situationen, die ihm fremd waren.

Wie kann man sich diese Heftigkeit erklären? Jan war das erstgeborene Kind, das viel Aufmerksamkeit von den Eltern erhielt und sich sehr wohl fühlte. Nach 2 Jahren und 8 Monaten kam der jüngere Bruder auf die Welt, der im 1. Lebensjahr oft krank war, weshalb die Eltern in seiner Wahrnehmung ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Bruder lenkten. Man kann annehmen, dass das nicht so war, aber er konnte sich diese grosse Veränderung nicht erklären und versuchte, diese Zuwendung auf gleiche Art und Weise wieder zu erreichen, wie er das vermutlich schon vorher erfolgreich versucht hatte und was eine liebende Mutter oder ein liebender Vater zunächst meistens übersehen. Er entwickelte grosse Ängste, wenn sich die Eltern nicht um ihn herumbewegten und auf ihn sofort eingingen. Er versuchte die Eltern zu sich zu holen, indem er sich unzufrieden zeigte und sich ärgerte und wütend wurde. Was vorher nur selten nötig war, entwickelte er in immer stärkerem Ausmass, als der jüngere Bruder die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Als seine zunehmende Heftigkeit nichts nützte, um das vorherige, als schön erlebte Leben wieder herzustellen, wurde er innerlich immer verzweifelter und fing auch an, den Bruder zu plagen. Im Kindergarten wehrte er sich in gleicher Art und Weise dagegen, von der Mutter weggenommen zu werden und im Gefühl, dort keine besondere Aufmerksamkeit zu erhalten, wie er es in den ersten 3 Jahren erlebt hatte.

Das heisst, er geriet in Not und fühlte sich vollkommen zurückgestossen. Da er das Leben fast 3 Jahre anders kennengelernt hatte und sich darin wohlgefühlt hatte, versteht man sehr gut, dass er unbewusst zu einem verzweifelte Versuch greift, das Leben wieder so hinzubiegen, wie er es gekannt hatte. Da ihn niemand dabei verstand – auch wenn Kindergärtnerin und Mutter und Vater das Beste wollten und sehr viel versuchten – wurde seine Unruhe immer grösser. So zerstörte er zum Beispiel im Kindergarten ständig etwas und war aggressiv gegenüber Gleichaltrigen, die er bisher nicht als Freunde, sondern als Konkurrenten kennengelernt hatte.

Seine Mutter war entsetzt und beschämt über ihren Sohn. Sie konnte nicht erkennen, warum sie ihm nicht helfen konnte und unterstellte ihm – ohne es zu wollen – Bösartigkeit. Sie wusste nicht, dass sie Hilfe gebraucht hätte, weil sie ihren Sohn emotional nicht erfassen konnte. Ihr Mann hatte ihr die Erziehung übergeben und wusste genauso wenig, wie er ihr helfen konnte.

Sie bemerkte nicht, dass Jan in dieser ganzen Anspannung immer wieder in kleinen Andeutungen zeigte, dass er helfen wollte. Und war von seinem Auftreten so beeindruckt, dass sie hinter diesem heftigen Verhalten nicht bemerkte, dass Jan ganz verzweifelt war, auch traurig, und sich selbst kritisierte dafür, dass er alles falsch macht. Und sich berechtigt nicht verstanden fühlte, weil die Erwachsenen ihn mangels richtiger psychologischer Informationen nicht verstehen konnten. So hörte er überall, dass er ein schwieriges Kind sei und er konnte keinen Ausweg sehen, ausser dem, was er versuchte, nämlich sich zu wehren.

Die Eltern merkten auch nicht, dass er voller Ängste steckte vor allen Menschen, die er sich in seiner Heftigkeit nicht anmerken liess. Die Mutter kritisierte Jan immer öfter und wurde auch unbeherrscht, wenn Jan den kleinen Bruder plagte, und sie schlug ihn sogar zwischendurch. Da sie sich vor sich selbst schämte und Jan ihr leidtat, kuschelte sie danach mit dem Jungen. Jan wurde sich immer sicherer, dass er ständig und von allen kritisiert werde, auch wenn das oft gar nicht der Fall war. So aber wehrte er sich immer heftiger und entschiedener gegen die ganze Welt, die ihn nicht verstand.

Ich glaube, wenn man diese Deutung hört, kann jeder nachvollziehen, dass Jan in Aufruhr war. Und sich gegen alle meinte wehren zu müssen und gleichzeitig sich vorgeworfen hat, dass er selbst komisch sei. Wenn man diese Situation von aussen so gedeutet sieht und nicht darin verwickelt ist, dann erst liegt es nahe, was Jan braucht.

Er braucht zuerst eine Sicherheit, dass man das Problem lösen kann, weil man ihn besser versteht als er sich selbst. Denn er kann selbst nicht erklären, was ihn umtreibt, wenn wir es ihm nicht erklären.

Das ist die eigentliche Aufgabe von Psychologie und Pädagogik. Es geht nie darum, ein korrektes Verhalten heranzuzwingen – auch nicht mit Medikamenten, Ernährungsumstellungen usw.

Denn Jan erlebt sich dadurch noch verstärkt als behandeltes Objekt, was er schon als kleines Kind erlebt hat. Er baute seinen Gefühlshaushalt unbewusst darum herum, dass er selbst nichts zu einem anderen Leben beitragen kann, sondern dass er von Erwachsenen durch äussere Einflüsse zu einem richtigen Verhalten gebracht wird. Es ginge darum, ihm erstens zu verstehen zu geben, dass sein Handeln gut verständlich ist aufgrund seiner von der Kindheit geprägten Wahrnehmung und er ganz logisch handle, so wie er sich eben unbewusst seine Möglichkeiten im Leben zurechtgelegt habe.

Zweitens sollte er erfahren, dass man seine Gefühlslage gut nachvollziehen könne. Ja sogar, dass man vermutlich gleich handeln würde, wenn man wie er glauben würde, dass andere Menschen gegen einen seien.

Es geht drittens darum, ihm einsichtig zu machen, dass er ohne es zu wollen, sich darin getäuscht hat, wie andere Menschen zu ihm stehen und wie er sich einbringen kann.

Um diese Einsicht zu vermitteln, muss sich der Psychologe oder Pädagoge gleichwertig und nicht besser oder um Anerkennung ringend fühlen. Er muss Jan für die Zusammenarbeit gewinnen und ihm vermitteln, dass er dessen innere Haltung aufgrund seiner unbewussten Meinung über das Leben versteht.

So kann das Vertrauen von Jan wachsen und er wird merken, dass er seine dysfunktionalen Bewältigungsmuster aufgeben kann. Jan wird also seine innere Unruhe aufgeben können, wenn er Vertrauen fassen kann und dadurch mit dem Hilfeleistenden seine untaugliche Bewegungslinie beziehungsweise seine unangepassten Gefühls-Überzeugungen erfasst und er bessere Möglichkeiten erlebt und sieht, wie er sein Leben gut meistern kann.

2. Beispiel:

Das 2. Beispiel entnehme ich dem Buch „Kindererziehung“ von Alfred Adler aus dem Jahr 1930 – dort das erste Fallbeispiel über eine Schulverweigerung und heftigen Störungen des Schulunterrichts -, womit auch gezeigt werden soll, dass wir es nicht mit neuen Phänomenen zu tun haben:

Der 15-jährige Mario, ein von seiner Mutter verzärteltes Einzelkind, fiel schon als Baby durch ständiges Schreien auf. Seine Mutter schaukelte es deshalb ständig und gab ihm immer zu trinken. Die Mutter liess ihn nie allein. Der normal intelligente Junge konnte sich nicht längere Zeit mit einer Sache beschäftigen, war zu Hause schon als kleines Kind aufsässig, zerstörte alle Spielsachen, klammerte sich an die Mutter und «wollte» bestimmen, was zu Hause gilt. Er störte jahrelang den Unterricht in der Schule, war unaufmerksam, antwortete ungefragt, stellte ständig unpassende Fragen, redete während des Unterrichts laut mit Kollegen, hielt sich nicht an irgendwelche Vorgaben, schrieb ganz unleserlich und log.

Wegen seines Verhaltens wurde er für die Schule untragbar. Er behauptete gegenüber den Eltern, dass er eine Prüfung für das Gymnasium bestanden habe, ging nach den Ferien täglich in die Schule, kam auch regelmässig zum Mittagessen nach Hause, bis sich nach einigen Wochen herausstellte, dass er die Prüfung gar nicht bestanden hatte. Mit Hilfe einer Einzelbeschulung konnte er doch noch ins Gymnasium gehen, aber sein Verhalten dort blieb gleich wie bisher.

Seine Mutter versorgte ihn gut, der Vater versuchte die ständig zunehmende Verweigerung und das aggressive Auftreten von Mario durch Konsequenzen aufzulösen – auch durch Schläge.

Wie kann man sich Marios Verhalten erklären? Der Junge wurde nie allein gelassen und erlebe das Leben so, dass es normal und schön ist, wenn man ohne eigenes Dazutun immer in seinen Wünschen erfasst ist. Beim Spiel wurde er von der Mutter immer gestört, weil sich die Mutter zu viele Sorgen um ihn machte und ihn dadurch nicht eigenständig werden liess. Er versuchte mit allen Mitteln, sich diese besondere Zuwendung zu erhalten, indem er sich an seine Mutter klammerte.

Er nahm die Schläge des Vaters leicht und war danach wieder schnell vergnügt. Er schaltete also innerlich den Vater aus, und hielt sich an die Mutter, die ihm alles gewährte. Er glaubte immer mehr, ein gutes Leben zu haben, wenn er verzärtelt wird.

Er entwickelte unbewusst das Ziel, ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, nicht indem er sich an dem beteiligte, was gerade für alle interessant war, sondern indem er aktiv etwas unternahm, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sein Gefühlshaushalt entwickelte sich so, dass er sich nur dann wohl fühlen konnte. Er konnte keine Lust und kein Interesse daran entwickeln, sich im Leben mit etwas zu befassen, was ihm andere vorstellen. Er fühlte sich schon gedemütigt, wenn er sich anderen anschliessen sollte, auch Erwachsenen und musste deshalb seine Kräfte daransetzen, die anderen auf seine zufälligen Impulse hin auszurichten.

Stellen wir uns wie immer die Frage, was ein Kind unternehmen kann, das unbewusst das Ziel anstrebt, von anderen immer besondere oder einzigartige Aufmerksamkeit zu erhalten. In dieser Logik ist es intelligent und eines der besten unbewussten Mittel, eine ständige äussere Unruhe aufzubringen. Denn dann müssen die anderen reagieren, auch wenn dies öfter mit ablehnenden Gefühlen verbunden ist. Wenn das Kind in Not kommt, weil es sicher ist, zu wenig Aufmerksamkeit zu haben und doch aktiv ist, dann wird es das in Kauf nehmen, ja sogar als Bestätigung sehen, dass es auf dem richtigen Weg ist.

Wenn man dieses unbewusste Ziel hinter dem störenden Verhalten nicht sieht, versucht man mit Appellen und mit «Konsequenzen», heute auch mit Gesprächen oder Verträgen, zu bewirken, dass das Kind dieses Verhalten sein lässt. Ein Kind wie Mario nimmt das nicht nur unbewusst in Kauf, sondern er trainiert damit seine irrtümliche Art der Lebensbewältigung mithilfe auch vieler Fachleute, die es gut meinen.

Auch wenn er sich reuig und willig zeigt, dann bleibt er doch unruhig. Denn wenn er sich ruhig und angepasst verhalten würde, dann fehlte ihm die spezielle Aufmerksamkeit, die er glaubt, nur durch diese Unruhe haben zu können. Wenn er ermahnt wird oder mit positiven Verstärkern abgelenkt werden soll, unterbricht Mario manchmal seine unruhige Art.

Doch solange er sicher ist, wie er am besten auf sich aufmerksam machen kann, kann er seine Haltung gar nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Er wird also mit seiner Haltung weiterfahren müssen, seiner unbewussten Eigenlogik folgend. Unglücklicherweise meinen dann viele, die über die psychologischen Zusammenhänge nicht informiert sind, es handle sich dabei um einen genetischen Defekt, aber in Wirklichkeit hat ein Kind wie Mario schon eine klare Vorstellung davon, wie er durchs Leben kommen muss. Und kann freiwillig gar nicht davon Abstand nehmen, sogar wenn er es gerne täte.

Wir stellen bei Mario fest, dass er schulisch immer gut war. Er hatte jedoch keine Freunde, weil er sich nur dann wohl fühlen konnte und genügend Aufmerksamkeit empfand, wenn er die Führerrolle übernahm. Mario versuchte also in seinem Ehrgeiz ständig, den anderen Anweisung zu geben und nur dadurch Bedeutung zu empfinden. Von aussen gesehen konnte das nur ausnahmsweise gelingen, meist schreckte er die anderen stattdessen ab.

Er sass also in einer Lebensfalle, weil er ständig etwas anstreben musste, was in der Realität zum Gegenteil führte. Sein Ehrgeiz machte ihn also schwach. Seine Sozialgefühle hatte er nur bei der Mutter entwickelt. Da sie ihn nicht mit anderen verbinden konnte, sondern bei anderen den Fehler suchte und ihm so nicht aus seiner Lebensfalle heraushelfen konnte, fehlte ihm das Interesse an anderen. Da sie ihm so vieles abgenommen hatte und ihn durch ständige Unterbrechungen sogar daran hinderte, im freien Spiel seine Fähigkeiten zu entwickeln, konnte er vieles im Leben nicht selbst bewältigen.

So entwickelte er – wie bei allen Formen der Verzärtelung – ein schwaches Selbstwertgefühl. Darum interessierte ihn auch sehr wenig. Diese Schwäche im Leben führte dazu, dass er alles unvollendet liess. Er hatte – berechtigte – Angst davor, fast überall kein gutes Ergebnis zeigen zu können. Weil er nicht an sich selbst glaubte, vertrödelte er seine Zeit und war selten konzentriert bei der Sache. Nach aussen zeigte er sich immer optimistisch, denn er baute darauf, dass seine Mutter alles für ihn erledigte.

Wenn wir ihm helfen wollen, müssen wir zuerst sein Zutrauen gewinnen, damit er uns gerne zuhört. Dann geht es darum, ihm nach und nach innerhalb dieser Vertrauensbeziehung den Bereich der Sozialbeziehungen auszuweiten. Wenn sein Interesse nicht mehr nur auf eine Person gerichtet ist, dann werden Unabhängigkeit und Mut wachsen, so dass er sich mit den konstruktiven Seiten des Lebens befassen kann und er dann in vielen Bereichen des Lebens reale Erfolge erzielen kann. Dann ist er nicht mehr auf seine Unruhe angewiesen, die ihm reale Erfolgen im Leben verhindern.

3. Beispiel

Das 3. Beispiel von Max entnehme ich dem Buch «Verstehen und Helfen» des Pädagogikprofessors Alfons Simon von 1951. Dieses Buch kann ich Ihnen vermitteln, falls Sie Interesse haben. Dieses Beispiel ist auch im Buch «Einführung in die individualpsychologische Pädagogik» von Professor Jürg Rüedi 1995 wiedergegeben worden. In diesem Beispiel von Max wurde genau dargestellt, wie ein sogenannt brutales, störendes Kind verstanden werden kann, wenn man die seelischen Zusammenhänge erfasst und Max innerhalb und mithilfe der ganzen Klasse geholfen werden kann.

Der 11-jährige Max war der frechste Schüler in der Schule seit langem. Er war der kleinste und schwächste Schüler mit scheuem und abweisendem Blick. Um ihn herum war ewige Unruhe und Streit. Max störte seine Nachbarn, entwendete Stifte und zerbrach sie, nach Berührungen durch andere bekam er Wutanfälle. Er plagte auch ganz kleine Kinder. Liebende Aufmerksamkeit, Besprechungen, Mahnungen Warnungen, Drohungen und Massnahmen halfen nichts. Viele dachten daran, dass er genetisch bedingt asozial sei.

Bei genauerem Hinsehen stellte sich seine psychische Situation folgendermassen dar:

Max war Kind einer alleinerziehenden Mutter mit einem zwei Jahre älteren Bruder, beide von zwei verschiedenen Vätern. Die ganztägig arbeitende Mutter brachte ihre Kinder unter der Woche zu einer Pflegemutter, die ihn weniger liebte als seinen Bruder, weil Max immer bettnässte und ständig krank war. Max fühlte sich gegenüber seinem Bruder  berechtigt ständig zurückgesetzt. Er war abgeschreckt, misstrauisch und fühlte sich bald ungeliebt. Entsprechend kam Max mit anderen Kindern nie gut aus. Die Welt behandelte ihn als Last und er stellte sich darauf ein.

Als er 6 war, heiratete die Mutter. Er kam von der Pflegefamilie zu ihr und seinem Stiefvater, der jedoch ständig alkoholisiert war, fremd ging und seine Mutter oft heftig bedrohte. Er wurde zum engen Vertrauten seiner Mutter, die sich bald wieder scheiden liess und sich enttäuscht von allen Menschen zurückzog und selbst Hilfe brauchte. Sein Misstrauen gegenüber den Menschen wurde durch die Mutter bestärkt.

Er begegnete allen mit Misstrauen und wurde immer wieder von neuem darin bestätigt. Sie verteidigte ihren Sohn gegen alle anderen, auch wenn er diese – wie so oft – geplagt hatte. Er half der Mutter in allen Lagen, anderen aber nicht.

In der Schule gelang es zunächst nicht, das mitgebrachte Misstrauen durch wohlwollende, einsichtige und geduldige Anleitung zu zerstreuen. Das gelingt nur, wenn die Lehrperson nicht bei den ersten grösseren Schwierigkeiten von einer unveränderlichen Anlage ausgeht. Und zusätzlich braucht sie ein gewisses Mass an psychologischen Einsichten in die kindliche Entwicklung. Die Lehrperson darf auch nicht am äusseren Erscheinungsbild hängen bleiben und darf ihre Kinder nicht nach Typen, Verhaltensweisen oder Diagnosen klassifizieren.

Da seine Lehrerin das nicht wusste, erlebte Max viele Unfreundlichkeiten, Hässlichkeiten, Demütigungen und Blossstellungen von der Lehrerin und den Klassenkameraden. Er hatte damit den endgültigen Beweis, dass er sich auf nichts im Leben freuen, dass man niemandem ausser der Mutter trauen kann, und dass alle Menschen seine Feinde seien.

Er hat keinen Ausweg, wie er zu Anerkennung kommen kann. Er müsste sich selbst aufgeben, indem er nur noch passiv werden würde – im Grunde genommen autistisch. Aus dem «Ich kann nicht» machte er ein «Ich will nicht». Mit dieser psychischen Wendung konnte er alle Ablehnungserlebnisse an sich abprallen lassen.

Und Max setzte sich unbewusst das Ziel, sich mit allen Mitteln behaupten zu wollen, koste es, was es wolle. Also nahm er sich als schwächlicher Mensch die kleinen Kinder vor. Da er beim Lernen versagte, kämpfte er gegen alle Gleichaltrigen, auch wenn er dafür bestraft wurde. Bei der Mutter fand er jedoch Trost. Er erlebte seine Bedeutung darin, dass er bestimmte, ob in der Klasse gearbeitet werden konnte oder nicht. Wenn der Lehrer ungeduldig wurde, erlebte er sich als der Stärkere. Und andere bewunderten ihn noch heimlich dafür.

Max konnte nur durch geduldige Anleitung zu anderen Erlebnissen und zu einem anderen Leben angeleitet werden. Indem der Lehrer ihm erstens seine Stärken zeigte, zweitens mit ihm ohne viel Aufhebens in Verbindung kam, drittens ihm in seinen schlechten Fächern Hilfe gab, indem er nicht möglichst rasch die Lücken füllen, sondern ihm mehr Zutrauen in seine eigenen Kräfte geben wollte. Max strahlte, wenn er Erfolge hatte – auch vor der Klasse und verlor dann sein auffälliges Verhalten einige Tage lang. Max hatte zudem wie viele, die sich ihrer Haut erwehren müssen, eine scharfe Beobachtungsfähigkeit und hatte weniger Hemmungen als andere. Deshalb konnte er auch gute Aufsätze schreiben und kam so in der Klasse zur Geltung. Diese guten Seiten kann man in jedem Kind erkennen und es kann dann in der Klasse damit zur Geltung kommen, wenn man nicht übertreibt.

Alfons Simon fasst in Kurzform zusammen («Verstehen und Helfen» 2015, S. 45), welche Auswege es fim Falle einer solchen Unruhe gibt:

  • Der Vorgeschichte des Kindes nachforschen
  • Dem Kind eine Schonzeit zubilligen
  • Dem Kind eine Aufgabe in der Klasse zuteilen
  • Das Interesse des Kindes daran wachhalten
  • Dem Kind in dessen schwachen Fächern helfen
  • Die guten Seiten auf die rechte Weise pflegen
  • Die Klasse an den Fortschritten diese Kindes interessieren
  • Sich die Mitarbeit der Klassenkollegen sichern
  • Die Eltern zu gewinnen suchen
  • Wenn die ersten Erfolge sichtbar werden, ihm ein sachliches und objektives Bild von sich und dem Leben vermitteln
  • Der Gewinn für alle ist die praktisch erlebte Erkenntnis, dass niemand Unrecht tut, der nicht selbst in irgendeiner Not ist. Denn kein Glücklicher quält seine Mitmenschen. Die Klasse kann erleben, dass es allen gut geht, wenn es jedem gut geht und dass die Aussonderung aus der Klassengemeinschaft viele Erfahrungen für das Leben verhindert.

In diesem Beispiel gelang eine Veränderung der Symptome durch eine genaue Schulung und Einblick in die psychologischen Zusammenhänge und in den seelischen Haushalt des Kindes. Im Gegensatz dazu ist es bei der 9-jährigen Bernadette im Film «Systemsprenger» nicht gelungen, sie für ein gleichwertiges Zusammenleben zu gewinnen. Es wäre zu diskutieren, ob sie zu wenig Einblick in ihre kindlichen Verhaltensmuster und Gefühlsirrtümer erhalten konnte oder warum das Vertrauen nicht gross genug war.

4. Beispiel:

Ich möchte mit Ihnen noch ein 4. Beispiel durchdenken – die 7jährige Sophia. Sie ist in der Schule zurückhaltend und kann nicht gut aufpassen. Sie sitzt oft abseits von ihren Kolleginnen und schaut vor sich hin. Sie denkt schnell an andere Dinge, wenn sie sich konzentrieren sollte und sie vergisst schnell, was sie gelernt hat. Sie schaut traurig in die Welt.

Wie ist sie gross geworden? Sophia wuchs mit ihren beiden Eltern auf. Ihr Vater war streng und sehr laut, wusste, was richtig und falsch ist und setzte das auch durch. Sophia hatte oft Angst. Die Eltern hatten ständig heftige Auseinandersetzungen, weil die Mutter das autoritäre Verhalten des Vaters gegenüber der Tochter ablehnte. Die Mutter liess sich von der Lautstärke des Vaters schnell einschüchtern und war emotional oft absorbiert und unglücklich in ihrer Lebenslage, so dass sie sich ihrer Tochter auch nicht konstant zuwenden konnte. Die jungen Eltern hatten wenig Einkommen, der Vater arbeitete nur temporär. So musste die Mutter jeweils morgens arbeiten gehen, als Sophia 12 Monate alt war. Eine Cannabis konsumierende junge Frau sollte sich am Morgen um Sophia kümmern, doch meistens liess sie Sophia stundenlang schreien und war am Schlafen. Sophia fing in dieser Zeit an, in der Nacht mit dem Kopf hin-und herzupendeln, was sie nie mehr loswurde   ein Ausdruck emotionalen Mangels. Sophia hatte ständig Ängste und schreckte bei jedem Streit zurück und hielt sich die Ohren zu. Als sie 2 1/2 war, kam noch ein Bruder dazu. Sie plagte ihn täglich. Er nahm in ihrer Wahrnehmung die wenige emotionale Wärme weg. Sie zog sich sonst aber zurück und spielte stundenlang mit Legos und Puppen, wo sie von niemandem gestört wurde und entwickelte dabei ein grosses Interesse. Waren jedoch die Eltern zu Hause, versuchte sie zunächst, diese mit den unmöglichsten Mitteln für sich zu interessieren. Der Vater versuchte, ihre Unruhe mit „Grenzen setzen“ und Heftigkeit im Zaum zu halten, was sie manchmal unter Zuhilfenahme aller Kräfte erreichen konnte, aber sich umso mehr anstrengte und noch nervöser wurde.

Der Ausweg bestand zuerst einmal darin, dass man sie nicht mehr wie seit der Kinderkrippe ständig auf ihre Unruhe ansprach, sie immer wieder von Neuem untersuchte und beobachtete und von ihr wissen wollte, warum sie so unruhig sei, so dass sie längst glaubte, dass sie anders als andere sei und sich deshalb noch weiter ausserhalb fühlte. Sie hatte unvoreingenommene Zuwendung nicht mehr erlebt, es erschien ihr so, dass man sie einfach interessant fand, weil sie komisch ist. Bei den Betreuern erlebte sie ab dem 7. Lebensjahr immer mehr, dass sie mit ihren Fähigkeiten wahrgenommen wurde und sie Vertrauen bilden konnte, dass sie als Mensch ernst genommen wurde. Sie konnte ihre Gefühlslagen immer mehr erfassen und die Hintergründe ihrer irrtümlichen „Lebensmelodie“ wahrnehmen, indem die Betreuer mit ihr verstehend und verständnisvoll sprachen und halfen, ihre irrtümliche Meinung über das Leben zu erfassen und sich anderen zugehörig zu fühlen.

5. Abschliessende Bemerkungen

  • Jedes Kind ist verstehbar, wenn man die seelischen Zusammenhänge hinter einem Verhalten untersucht. Dazu müssen wir jeweils Anhaltspunkte finden, welche Erlebnisse ein Kind gemacht hat und wie es diese gedeutet hat. Wir können aus Berichten und Beschreibungen versuchen zu erhellen, welches Lebensmuster, welche Lebensmelodie ein Kind unbewusst entwickelt hat, welche Ziele es anstrebt, was es sich zutraut und welche Erlebnisse es zu verhindern versucht.
  • Jedes Kind möchte dazugehören und wie alle anderen mitmachen können. Wenn es aber nicht weiss wie, dann zeigt sich dieser Schwächezustand unter anderem in Form von Unruhe und Konzentrationsstörungen. Wir müssen dann annehmen, dass es durch seine bisherigen Erfahrungen mit den Menschen, seine ganz eigene Interpretation der Erlebnisse, noch nicht die notwendige gefühlsmässige Sicherheit im Leben erwerben konnte. Es kann deshalb auch nicht genug Mut aufbringen oder hat sogar bereits aufgegeben, richtig mitmachen zu können.
  • Es ist mannigfach, was ein Kind im Innersten beschäftigen kann. Dazu nur einige Beispiele:
  • Ein Kind ist zum Beispiel eifersüchtig und schaut deswegen die ganze Zeit darauf, ob es schneller oder langsamer ist als die anderen.
  • Ein anderes Kind fühlt sich ganz dumm und kann deshalb erst gar kein Buch aufschlagen, denn es glaubt bei allem, was es nicht versteht, das sei der Beweis für seine Dummheit.
  • Ein drittes Kind ist so unsicher, ob die anderen mit ihm zufrieden sind, dass es die anderen immer auf sich aufmerksam machen muss, auch wenn es längst weiss, dass das stört und es schon hundert Mal versprochen hat, sich ruhig zu benehmen.
  • Ein viertes Kind hat die Welt so kennengelernt, dass es sich abgelehnt fühlt, wenn ein momentaner Wunsch nicht erkannt oder nicht erfüllt wird; zu zweit geht es dann sehr gut. Ist es aber unter anderen Kindern, fühlt es sich alleine und verloren, wehrt sich ständig oder zieht sich zurück.
  • Ein fünftes Kind hat ständig Angst vor Kritik, vielleicht sogar vor Schlägen, wagt kaum zu denken, kommt nicht mit und ist deshalb ganz unruhig.
  • Ein sechstes Kind fühlt sich ständig wie unter Gegnern und denkt nur daran, sich nicht unterkriegen zu lassen, wehrt sich gegen jeden vermeintlichen Angriff und wird bei Kritik frech.
  • Ein siebtes Kind meint nur dann, wichtig zu sein, wenn es meistens bestimmen kann und fängt deshalb mit jedem Streit an, wenn ein anderes Kind auch Vorschläge bringt.
  • Ein achtes fühlt sich bereits bevormundet, wenn es eine Erklärung erhält – so wie bei seinem älteren Geschwister – und verschliesst dann die Ohren.
  • Wenn wir uns verbindend, zuversichtlich und mit dem richtigen psychologischen Verständnis solidarisierend in einen anderen Menschen einfühlen und dabei Zusammenarbeit und keine Behandlung von aussen suchen, dann haben wir gute Chancen, diese teils heftigsten Phänomene von Unruhe, Nervosität, Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit oder Verträumtheit zu überwinden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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