Aus psychologischer Sicht lässt sich festhalten, dass sich jeder Mensch unbewusst einen Sinn im Leben zurechtlegt. Er folgt im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln einer Meinung über das Leben, die er sich schon in den ersten Kindheitsjahren zurechtgelegt hat – ohne darüber nachgedacht zu haben oder es selbst beschreiben zu können. Als geschulter Kenner kann man aus dem Lebensalltag eines Menschen erkennen, welchem unbewussten Lebensstil er folgt – was ihm wichtig und sinnvoll im Leben erscheint. Die Lebenslinie oder die Grundüberzeugungen zeigen sich aber auch daran, wie jemand die grossen Herausforderungen angeht, zu denen jeder Mensch eine innere Stellungnahme entwickeln muss: Beruf oder Schule, Umgang mit anderen Menschen in einer ganzen Kultur und die Liebe.
Ein Kind entwickelt innerhalb des vorgefundenen Umfelds sehr früh ein Grundmuster gegenüber dem Leben, das es sich nicht schnell wieder nehmen lässt und in dem es seinen persönlichen Sinn findet:
Wird ein Kind vom ersten Tag an angeleitet, sich für andere zu interessieren, im Alltag auch in schwierigen Situationen mit anderen zusammenzuwirken, mutig möglichst viele Fähigkeiten zu entwickeln, die es eigenständig machen und die auch anderen zugute kommen, dann fühlt es sich erfüllt, das Leben mit anderen gut gestalten zu können und wird auf viel Echo stossen und viel Lebensglück erleben können.
Erfährt ein Kind wenig Zuneigung oder viel Kritik, findet es vielleicht seinen Lebenssinn darin, nie mehr auf Menschen angewiesen sein zu müssen. Sein Misstrauen gegen die anderen kann sich nicht nur darin zeigen, dass er introvertiert lebt, sondern kann sich auch in Distanziertheit zeigen oder in Besserwisserei und einem Streben, andere unterzuordnen. Er entwickelt seinen Lebensinn darin und wird solche Ziele auch in einer Partnerschaft anstreben ohne es zu verstehen – und wird damit scheitern. Da er von seinem unverstandenen Lebensstil nicht Abstand nehmen kann, muss er sich eine Rechtfertigung für sein Scheitern suchen: Er behauptet zum Beispiel, Partnerschaften würden ihn einengen oder die Männer bzw. Frauen seien nicht interessiert oder seien eben nicht zu gebrauchen.
Wird einem Kind eine Welt vorgeführt, in dem seine Wünsche ohne eigenen Beitrag erfüllt werden, fühlt es sich meist überall sehr schnell abgelehnt. Sein Lebenssinn besteht dann darin, die anderen mit Charme oder Ärger bzw. Beleidigtsein dazu bringen zu können, für es die Herausforderungen im Leben zu verringern oder ganz zu lösen. Das wird scheitern und doch kann es nicht anders – wenn unverstanden -, als seine Bewegungslinie fortzusetzen. Ein solcher Mensch muss sich entweder auf wenige Menschen beschränken, zum Beispiel auf eine Partnerschaft oder einen hilfsbereiten Chef, wo das gelingt oder muss sich anders vom Leben zurückziehen, zum Beispiel durch eine Depression.
Wird sich der Mensch bewusst, mit welchen untauglichen Anteilen er sich einen Sinn im Leben zu verschaffen sucht, kann er sich von dem in frühester Kindheit erworbenen Lebensstil verabschieden und seine ganze Gefühlswelt, sein Denken, Wollen und Handeln darauf ausrichten, enger mit den Menschen zu kooperieren. In welcher Art jeder einzelne Mensch aufgrund seiner Erziehungseindrücke einen Sinn im Leben zu verwirklichen sucht, entscheidet darüber, inwieweit das Zusammenleben in einer Kultur friedlich, gerecht und zum Wohlstand für alle vor sich geht.
lic. phil. Diethelm Raff
Psychologe
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Tags: Lebenssinn