Interesse und Freude am Mitmenschen
Jeder Mensch möchte gerne gut mit dem anderen auskommen. Dies fällt einem vielleicht manchmal schwer zu glauben, weil es so nahe liegt, schlecht über uns selbst und andere zu denken. Man wird selber schnell ärgerlich, ein anderer schimpft böse, oder ein Kind tut nicht so, wie man gerne hätte. Es ist die Errungenschaft der Psychologie, dass alle diese Phänomene verstehbar geworden sind. Wenn man sie verstehen und die Menschen mit ihren Beweggründen kennenlernt, wird deutlich, dass jeder Mensch im Grunde die Verbundenheit zum anderen sucht.
Der Mensch ist kein Mysterium. Das Kind kommt auf die Welt mit der angeborenen Neigung, die Verbindung zu seiner Mutter wie auch zu den anderen Menschen zu suchen. Nebst dieser Neigung, so weiss man durch die heutige Forschung, gibt es keine genetischen Anlagen, die einen Charakter vorbedingen würden. Das neugeborene Kind ist auf seine Eltern ausgerichtet und darauf vorbereitet, in den nächsten paar Jahren zu lernen, wie die Welt funktioniert und wie man sich darin am besten bewegt.
Es entwickelt ein teils bewusstes, teils unbewusstes Bild von der Welt, von den Menschen und von sich selbst. Wenn wir uns später fragen, wieso sich jemand anders verhält als wir erwartet haben, zum Beispiel wieso ein Kind nicht folgen will oder wieso wir einander verpassen und im Streit enden – obwohl es keiner möchte –, dann liegt die Antwort immer in der Erforschung dieser Gefühlslage und Weltvorstellung, die sich bei einem Menschen in der Kindheit gebildet hat. Der sogenannte Charakter ist lediglich der äussere Widerschein dieser inneren Überzeugungen.
Viele Menschen empfinden das Zusammensein mit anderen als anstrengend, und meinen, sich von diesen alleine vor dem Fernseher, mit Musik, in der Natur oder in einer Meditation erholen zu müssen. Sie haben in ihren ersten Jahren die Menschen gegen sich erlebt und haben keinen gute Meinung von der Umwelt. Ihre Grundüberzeugungen sind zum Beispiel, dass man Angst haben muss, dass man nicht in Ruhe gelassen wird, dass andere einem immer Vorschriften machen wollen, dass man sich gegen Ansprüche der anderen wehren muss, dass man nur zufrieden sein kann, wenn andere auf einen eingehen, dass man andere immer gut stimmen oder immer bereitstehen muss usw..
Es gibt aber auch Menschen, die müssen sich nicht erholen, die finden die anderen Menschen nicht anstrengend. Sie konnten in den ersten Lebensjahren eine Weltvorstellung bilden, dass andere sich an einem freuen und es interessant ist, andere kennenzulernen, dass man verschiedene Meinungen haben kann und sich gut versteht oder dass es eine Genugtuung ist, sich mit dem anderen zu verbinden.
Was der Mensch in den ersten Lebensjahren erlebt und wie er diese Erlebnisse interpretiert und einordnet führen zu einem ganz individuellen Weltbild und Glaubenssätzen, denen er im Fühlen, Denken und Handeln unbewusst folgt. Dementsprechend erlebt man das Zusammenleben mit anderen freudig und am leicht oder anstrengend und schwer, auch wenn jeder gerne mit anderen gut auskommen möchte.
Gewinnt man Einblick in die oft falschen Auffassungen über sich und die anderen, kann man sich und die anderen besser verstehen lernen und merkt dann, dass auch der andere immer nur mit seiner unbewussten Weltsicht denkt, fühlt und handelt. Man wird dann interessierter am anderen und seinen zuerst unverständlichen Verhaltensweisen und kann so freundlicher gesinnt sein. Dieses Interesse am Gewordensein des anderen ergibt mehr Verbundenheit mit den Mitmenschen und macht deshalb glücklicher.
lic. phil. Diethelm Raff
Psychologe
Foto von Trinity Kubassek (pexel.com)