Autor: Diethelm Raff

• Studium der Psychologie, der Psychopathologie und der Pädagogik an der Universität Zürich mit Abschluss 1989 als lic.phil. • Eigene psychologische Praxis für Einzel- und Paartherapie, Erziehungsberatung • Regelmässige Vorträge zu Erziehungsfragen, Schwierigkeiten in der Partnerschaft, Lern- und Studienproblemen und zu anderen psychologischen Fragen seit 1989

Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe, mit Zitaten aus Christoph Ahlers Buch: Vom Himmel auf Erden – Was Sexualität für uns bedeutet.

Christoph Ahlers: Vom Himmel auf Erden

Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe, mit Zitaten aus Christoph Ahlers Buch: Vom Himmel auf Erden – Was Sexualität für uns bedeutet. München 2017
Dienstag, 3. Dezember 2019

Guten Abend

Wir reden heute über ein Thema, das nicht so einfach ist, weil es immer noch tabui-siert ist oder sehr einseitig besprochen wird. „Sexualität ist für viele mit Selbstunsi-cherheit und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden.“ (S. 35)

1. Schwierigkeiten in der Sexualität

Der Autor des Buches, über das wir heute sprechen, Christoph Joseph Ahlers mit dem Titel Vom Himmel auf Erden Was Sexualität für uns bedeutet erklärt: „Meist wird in Freundschaften nach wie vor nur allgemein, also wenig konkret gesprochen. Wenn, dann meist in zotigen Witzen oder plakativen Schilderungen. Über das eigene Erleben und Verhalten zu sprechen, vor allem über die eigenen Wünsche und Be-dürfnisse, aber auch über die Ängste und Befürchtungen, das geschieht auch in Freundschaften selten.“ S. 35

Am letzten Freitag war ich bei Vorträgen von TED Talk. Es gab auch einen Vortrag über Sexualität und dort kam auch die weitverbreitete Meinung – auch bei Sexualthe-rapeuten – zum Ausdruck, dass es zwar darum geht, miteinander über Sexualität zu sprechen, aber man legt oft nahe, dass man dabei vor allem seinen Phantasien freien Lauf lassen und dass man vor allem über die Art der sexuellen Stimulation reden sol-le und wie man zu mehr Erregung komme. Meist schlägt man dabei vor, dass man mit verschiedenen Stellungen in der Sexualität und mit allen möglichen Hilfsmitteln einander mehr Erregung zukommen lässt.

Ahlers merkt kritisch an, dass seit dem 21. Jahrhundert sogar eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Sexualität entstanden sei, die darin besteht, dass viele im In-ternet Pornografie gesehen hätten und in den Bildern ein Vorbild bekommen habe. Er schreibt: „Durch Pornografie im Internet haben sich pornografische Modelle und Selbstkonzepte entwickelt. Man erkennt das an verschiedenen Symptomen: Kör-perenthaarung, Intimrasur oder Intimchirurgie“. (S. 36). Und weiter meint er: „Das Nachturnen einer sexuellen Choreografie, die durch Internetpornografie erworben worden ist, ist mit der Vorstellung verknüpft: So geht es.“ „So produziere ich guten Sex“. Viele meinen, dann sei man ein guter Lover. Viele denken und empfinden für sich und heimlich: «Mache ich das nicht so und beherrsche die einzelnen Praktiken und Stellungen nicht, bin ich „nicht gut im Bett“. Und es kann so weit gehen zu meinen, dann sei « der Sex schlecht», man sei ein Looser oder Versager, wenn man das nicht zustande bringt. (S. 23 ff)
Wenn ich glaube, nicht zu genügen, mich beweisen zu müssen, dann fange ich an zu agieren. Ich tue dann nicht, was mir guttut, sondern fange an, sexuelle Strickmuster abzuarbeiten. Pornografie macht genau das vor: Eine fiktionale Darstellung von Se-xualität, eine beziehungslose sexuelle Interaktion in Form von genitaler Stimulation. Sie dient nur dazu, Erregung hervorzurufen. Der Kontakt von ein oder mehreren Menschen ist auf Orgasmusproduktion reduziert. Jede Intimität wird dabei vermie-den.

2. Sex als Mittel, um geborgen, angenommen und zugehörig zu sein

Ahlers schlägt bei der Betrachtung der Sexualität eine ganz andere Richtung ein. Er meint, einem solchen Ansatz fehle es am Wesentlichen: Nämlich es fehle das Hin-schauen und Zuhören, im Verbalen wie im Körpersprachlichen. Diese Fähigkeit ist nur möglich, wenn das Selbstwertgefühl das ermöglicht. Das erlaubt eine Öffnung gegenüber dem anderen.

Ahlers titelt deshalb im 1. Kapitel seines Buches: Erlösung durch Überwindung von Vereinzelung- Sex als Kommunikation

Ahlers bezieht sich in seiner Betrachtung der Sexualität auf die Vorstellung von Aris-toteles, dass wir Menschen uns gerne in Zweierbeziehungen zusammenschliessen in einer sogenannten Syn-dyade. Dies tun wir, weil wir in Paarbeziehungen die psycho-sozialen Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit, Angenommensein und Geborgenheit besonders gut erfüllen können.

Diese ganz neue Art, Sexualität innerhalb der Sexualwissenschaften zu sehen, ent-stand erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Am Hamburger Institut für Sexualforschung unter Kurt Karl Loewit wiesen die Forscher darauf hin, dass Sexua-lität nicht einfach der Lust und der Fortpflanzung dient. Sie hoben eine dritte Funk-tion der Sexualität hervor, die als Beziehungsfunktion beschrieben wurde. Ahlers baut darauf auf und arbeitet mit dem klinischen Konzept einer beziehungs- und kommunikationsfokussierten Sexualtherapie.

3. Das Konzept der Beziehungsfunktion von Sexualität

Woraus besteht das Konzept der Beziehungsfunktion?Ahlers schreibt dazu:

3.1. Sex und Beziehung seien wesentlich miteinander verbunden. Das Verständnis dafür fehlt in unserer Kultur weitgehend. (S. 412)

3.2. Sexualität sei die intimste Form der Kommunikation, die uns Menschen zur Ver-fügung steht. (S. 14 ff)

3.3. Sexualität sei die Möglichkeit, über den intimen Körperkontakt elementare Mit-teilungen zu machen und zu empfangen.

3.4. Sexualität sei Körperkommunikation zur Erfüllung psychosozialer Grundbe-dürfnisse: Wahrgenommen, ernstgenommen und angenommen zu werden. Sie kann das Bedürfnis stillen nach Aufmerksamkeit und Beachtung, Zuneigung und Zuwen-dung, nach Zugehörigkeit und Geborgenheit, nach Sicherheit, Vertrauen und Nähe.

3.5. Sexualität sei die intimste Möglichkeit, durch die man diese Grundbedürfnisse körperlich und seelisch zugleich erfahren und erleben kann.

3.6. Man könne über Sexualität mitteilen, dass wir einander annehmbar, richtig und gut, im Idealfall auch schön, anziehend und begehrenswert finden.

3.7. Dieses Gefühl wollen wir geben und bekommen. Wir wollen fühlen, dass uns jemand gut findet. Wir möchten spüren, dass uns der andere in sich lässt und in sich aufnimmt oder in uns dringen will. Das ist die tiefere Bedeutung von Küssen und Miteinander-Schlafen.

3.8. Dieser Vorgang bereite Erregungs- und Lustgefühle und könne durch einen Or-gasmus verstärkt werden. Sex sei also nicht einfach ein Trieb oder geil oder ergibt sich spontan oder nicht.

3.9. Erregung und Fortpflanzung seien gegenüber der Intimkommunikation nach-rangige Funktionen von Sexualität. Im Wesentlichen gehe es bei Sexualität um Ver-ständigung und um die Frage, wie wir auf sexuelle Weise in Kontakt treten und uns austauschen können. Also darum, wie wir Beziehungen auch im Sexuellen führen.

3.10. Neben Lust und Leidenschaft gehe es im Sexualleben um die Erfüllung des Wunsches, jemanden neben und bei sich zu haben und sich besonders verbunden zu fühlen. Sex ist also vorrangig beziehungsstiftend und bindungsstabilisierend.

3.11. Sex könne uns auf unvergleichlich intensive Weise das Gefühl geben, dass wir richtig und in Ordnung sind.

3.12. Die tiefere Bedeutung von sexueller Vereinigung sei die Erlösung durch Über-windung von Vereinzelung.

3.13 Sexualität sei aus diesen Gründen heraus eine Quelle von Lebendigkeit, Lebens-freude und Glück.

4. Folgerungen aus dem Konzept der Beziehungsfunktion von Sexualität

4.1. Durch sexuelle Erregung mit einem Partner könne ein Gefühl von Angenom-mensein intensiviert werden. Deshalb geht es in einer längeren partnerschaftlichen Sexualität nicht nur um einen intimen Körperkontakt oder geteilte sexuelle Erregung. Bei diesem Vorgang geht es stattdessen um das Gefühl, zu erleben und zu geben: «Ich mag dich!» «Ich will dich».

4.2. Die Sexualisierung des Körperkontakts ist eine Erweiterung und Vertiefung des Gefühls von Angenommensein und Geborgenheit. Man könne sich nicht nur durch sexuelle Erregung geliebt und angenommen fühlen und könne sich nicht nur durch Orgasmen beruhigen und entspannen.

4.3. Sexuelle Handlungen könnten in Bezug auf das Angenommensein immer Ver-schiedenes bedeuten. Sex sei nicht gleich Sex. Beim Geschlechtsverkehr als Prostitu-tion gehe es vor allem um die sexuelle Stimulation. Sexualität ist jedoch eine Spra-che. Sie kommt nicht durch spezifische Sexhandlungen oder Praktiken zum Aus-druck, sondern durch die Art und Weise, wie Sexualität stattfindet; nämlich weniger oder stärker kommunikativ. Man kann mehr oder weniger beim anderen sein.

4.4. Im Körpersprachlichen gibt es Analphabeten und Sprachakrobaten. Die Sprache der Sexualität könne man nur in Beziehung erlernen. Es ist schwer, nichtverbale Bot-schaften wahrzunehmen und erschliessen zu können. Es fehlt meistens das Verständ-nis, dass wir im Sexuellen verschiedene Grundbedürfnisse ausdrücken und erfüllen können. Es fehle dafür am kulturellen und gesellschaftlichen Bewusstsein.

4. 5. Bei jedem neuen Partner lerne man diese Sprache neu.
Automatismen, auf stereotypische Art in Verbindung zu treten, seien Ausdruck von Verunsicherung, Selbstunsicherheit und dem Gefühl von Hilflosigkeit und Überfor-derung, bezogen auf die eigenen Bedürfnisse und die des anderen. (S. 22 f). Das ste-reotype Herantreten zeigt auf, dass man den anderen nicht sehen, hören und erfahren kann, was er oder sie eigentlich möchte, wer er oder sie eigentlich ist.

4. 6. Es gehe bei der Sexualität nicht darum, sich gegenseitig zu bedienen. Es geht darum wahrzunehmen, wer der andere ist. Und es geht auch darum, diese Einsicht im sexuellen Verhalten zu würdigen und zum Ausdruck zu bringen. Wenn man sich ungesehen, ungeachtet oder gar missachtet fühle, dann vergehe einem auch die Lust, mit dem anderen zu schlafen.

4. 7. Wie entsteht Intimität?
Gemäss Ahlers, können nur die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. ( S.24ff )
Intimität mache die Sexualität intensiv und erfüllend, sie versetze aber viele Men-schen in Angst.

Intimität brauche ein gesundes Selbstwertgefühl. Es darf nie ein Zwang sein, dass etwas geschehen müsse. Nicht die Stimulation und Orgasmusproduktion stehe im Vordergrund. Die intimsten Momente sind oft diejenigen, in denen wenig geschieht: Blickkontakt, sich nackt anschauen ohne sofort die Körperdistanz aufzuheben. Viele würden das als kaum auszuhalten beschreiben.
Die Beklommenheit, die dabei entstehen könne, führe dann zu einer Umarmung, um die Körperdistanz aufzuheben. Das würde dann als ungeheuer faszinierend und ver-bindend empfunden. Fehle es hingegen an Bewusstsein für die beschriebene Qualität von Sexualität, so fehle auch die Resonanz in den Augen des anderen und jeder blei-be trotz körperlicher Vereinigung für sich allein.

4. 8. Sexuelle Beziehungen würden zumeist dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass die partnerschaftliche Kommunikation erodiert. Es wird nicht mehr miteinander übereinander gesprochen. Beide reden allenfalls noch zusammen über das Aussen: Arbeit, Familie, Ferien, Geld, Kinder, Fernsehen. Aber sie sprechen nicht mehr über sich selbst, ihre Gedanken und Gefühle, bezogen aufeinander und ihre eigene Bezie-hung. Es wird geredet, aber nichts gesagt.

Wenn ich in einer Beziehung das Gefühl habe, dass der andere sich nicht für mich interessiert, dass er mich nicht wichtig findet, sondern nur sein Ding durchzieht, dann fange auch ich an, mein eigenes Ding durchzuziehen.

Deshalb vergehe uns die Lust mit dem anderen zu schlafen und nicht etwa, weil wir uns schon so gut kennen oder weil visuell der Anreiz des Neuen und Unbekannten fehlt, wie das vordergründig oft dargestellt wird. Der Körper des anderen ist keine Seife, die sich nach mehrmalige Nutzung verbraucht. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Sexualleben liege nicht an einem Abnutzungseffekt des körperlichen Attrak-tivitäts-Empfindens, sondern dass die meisten von uns nicht gelernt haben, Bezie-hungen durch Kommunikationzu führen. Das bedeutet, miteinander in Kontakt und im Austausch zu bleiben und sich auseinanderzusetzen – vor allem auch übereinander. Zum Beispiel sich zu fragen, wer der Mensch neben mir auf dem Sofa ist.

4. 9. Wie verhält sich Sexualität zur Paarzufriedenheit? (S. 25)

Normalerweise divergiert Sexualität und Partnerschaft nicht. Die Qualität der part-nerschaftlichen und der sexuellen Beziehung spiegeln sich wechselseitig wider. Das liegt an Folgendem: Wenn ich mich als Mensch in meiner Beziehung gemeint, gese-hen und gewollt fühle, dann erlebe ich genau das auch in sexueller Hinsicht. Und umgekehrt: Wenn ich mich in sexueller Hinsicht angenommen und gemocht fühle, dann fühle ich mich auch als Partnerin und als Partner angenommen. (S. 25)

4.9.1. Eine Befragung von Hunderten von Paaren durch einen kanadischen Sexu-alpsychologen ( S. 431) zur sexuellen Zufriedenheit bei Paaren ergab
Folgendes:
Sexuelle Leistungsfähigkeit spielt für die sexuelle Zufriedenheit bei Paaren so gut wie keine Rolle: Quantitative Parameter wie Busen- und Penisgrösse, Häufigkeit und Dauer von Geschlechtsverkehr, Vielfalt und Abwechslung sexueller Praktiken und Stellungen sind nicht entscheidend.
Viel wichtiger waren: Aufmerksamkeit, Wachheit, Echtheit, mentale und emotionale Präsenz des anderen, Nähe, Vertrauen, Intimität und Transzendenz.

4.9.2. Kompliziert daran ist jedoch ( S.24 ff ), dass es in der Regel so sei: Männer wollen oft durch Sexualität Nähe herstellen und Frauen brauchen Nähe, um Sexuali-tät haben zu können. Gelingende Kommunikation ist der einzige Schlüssel, um Ge-schlechterdifferenzen und wechselseitig versperrte Türen zu öffnen.

Ein Beispiel für solche Missverständnisse ist:

Sie will keine Sexualität. Er kommt nicht mit zu den Schwiegereltern. Sie streiten über den Besuch, aber in Wirklichkeit fühlt er sich nicht angenommen. Er kann es nicht bewusst wahrnehmen, was ihn antreibt und deshalb kann er auch nichts sagen. Sie versteht es deshalb auch nicht.
Falls sie erkennen, dass er sich durch ausbleibenden Sex, nicht angenommen fühlt, dann versanden Argumente des Mannes mit solchem oder ähnlichem Sinn: «Ein Mann braucht eben Sex, weil er sonst einen Stau bekommt». Das sind jedoch abstru-se Körpersensationen, ähnlich, wie wenn man sagen würde: «Ich muss weinen, weil sonst meine Tränendrüsen platzen».

Es gibt physiologisch keinen Samenstau, deshalb auch keinen Druckanstieg, deshalb auch keine körperlich bedingten Schmerzen. Ungebrauchte Spermien werden resor-biert oder durch eine nächtliche Erektion kommt es zu einem spontanen Samener-guss. „Hier gibt es ja nie Sex“, ist eine Reklamation dieses Mannes. In dieser Situati-on leidet der Mann unter einem «Gefühlsstau», nicht unter einem Samenstau.

Der Mann leidet stattdessen unter dem Gefühl, bei seiner Frau nicht anzukommen, von ihr nicht angenommen zu werden. Er meint, Anerkennung würde er erleben, wenn sie mit ihm schläft,

Die Frau sagt ihm: «Wenn Du mich nie fragst, wie es mir geht, nie schaust, womit ich mich eigentlich beschäftige, wenn Du Dich nie an etwas beteiligst und Dich nicht interessierst, dann interessiere ich mich auch nicht dafür, am Abend mit Dir zu schla-fen»

So missverstehen sich Mann und Frau. Die Erfüllung von Grundbedürfnissen werden dabei gegenseitig frustriert. Beide können ihre eigenen Bedürfnisse nicht wahrneh-men und nicht formulieren, geschweige denn sie wechselseitig berücksichtigen und erfüllen.

Wenn bei beiden ein Gefühl von Beachtung und Wertschätzung entsteht, stellt sichsie wie andere Menschen auch wieder Lust aufeinanderein.

5. Die therapeutische Herangehensweise in der Sexualtherapie

Als Therapeut ist es wichtig, das Paar über vieles aufzuklären, unter anderem dies:

5. 1. In der Sexualtherapie geht es nicht um generelle Überlegungen zur Genderfrage oder das generelle Geschlechterverhältnis, sondern es geht darum, wie das Paar ihre Beziehung besprechen kann.

5.2. Ein Paar, das unter fortgesetzten Konflikten und Streitigkeiten leidet, unter ei-ner fortgesetzten Rollenzuweisung, unter einer starren Opfer-Täter-Dynamik und permanentem „Aber Du Anklagen“, braucht ein Bewusstsein dafür, dass es kein Ver-brecher-Paar ist, weil es weder Opfer noch Täter gibt. Beide sind Leidtragende einer nicht funktionierenden Beziehungskommunikation, beide sitzen in ein und demsel-ben Boot, drehen sich aber im Kreis und rudern in verschiedene Richtungen.

Wenn in der Sexualtherapie diese Einsicht reift, sieht man das schon in der Körper-sprache der beiden. Sie schauen einander an, häufig mit einem Schmunzeln.

5.3. Das Problem in der Sexualität zeigt sich in fehlendem Körperkontakt, ausblei-bender Zärtlichkeit und Intimität sowie nicht stattfindendem Sex. Es ist dabei wich-tig für ein Paar zu verstehen, dass es nicht darum geht zu verhandeln: Zum Beispiel, ob sie alle 10 oder 14 Tage Geschlechtsverkehr haben oder nicht. Wenn ein Paar das versteht, seien sie nicht mehr auf faule Kompromisse über den kleinsten gemeinsa-men Nenner angewiesen.
Es gibt einen anderen Ansatz als zu verhandeln: Sie lernen, neu aufeinander zuzuge-hen, sich kennenzulernen und neugierig zu werden.

5.4. Wenn das Bewusstsein und der Mut vorhanden sind, sich Fragen zu stellen, in einen Austausch zu treten und im Austausch zu bleiben darüber, was man einander bedeutet, dann gelingt es am ehesten, auch im Sexualleben eine erfüllende Beziehung zu erhalten. Wir können in der Sexualität nur dann etwas Erfüllendes erleben, wenn uns das, was wir in sexuelle Hinsicht wollen und tun, etwas bedeutet. Wenn es mir etwas bedeutet, dem anderen etwas sagt – und uns unsere Beziehung wichtig ist. Da-zu ist es nötig, dass wir miteinander kommunizieren und nicht nebeneinander her oder aneinander vorbeireden und leben. (S. 31)

5. 5. Die therapeutische Herangehensweise in der Sexualtherapie laut Ahlers ist Fol-gende: Man versucht, beide Seiten zu «provozieren» und sie damit zu mobilisieren:

Man muss sowohl den Mann fragen, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet und was er – abgesehen vom Sex – eigentlich von seiner Frau will. Ob er nachvollziehen kann, dass seine Frau nicht unbedingt das Gefühl hat, in seinen Wünschen als Person vorzukommen, wenn er wirklich nichts anderes von ihr fordert als Geschlechtsver-kehr wegen Samenstau.

Man fragt die Frau: «Was ist eigentlich das Problem? Warum schlafen Sie nicht mit Ihrem Mann: Tut das weh? Ist es anstrengend oder problematisch? Und wofür steht das?» Sie sagt ja zu ihm: «Ich mache Dir Brot, kaufe auch Bier für Dich», was sie ja nicht zu tun bräuchte, «aber Sex gibt es nicht». Warum wird da bei ihr der Verwei-gerungspflock eingeschlagen? Es geht ja um 20 Minuten Intimität, nicht um eine Koital -Akrobatik, durch die sie am nächsten Tag ermattet wäre.

Diese Vorgehensweise ist immer als Anregung gemeint sein, sich selbst solche pro-vokativen Fragen zu stellen. Es ist keine Aufforderung, etwas tun zu müssen. Es geht dabei um eine niedrigschwellige pragmatische Herangehensweise.

6. Spezifische Fragen zur Sexualität

6.1. Wahnsinnssexualität

Ein solches Erlebnis ist wunderbar. Manche merken jedoch schon nach dem ersten Sex, dass man sich nicht viel zu sagen hat. Solche Beziehungen sind meist nicht von langer Dauer, ausser in Fern – und Aussenbeziehungen. Probleme treten erst auf, wenn daraus ein gemeinsames Leben mit einem gemeinsamen Alltag werden soll.

Die Erklärung dafür, ist, dass beide sich zwar körpersprachlich das Wesentlich sagen können, nämlich ein Ja. Das reicht aber oft nicht für die Etablierung einer festen Be-ziehung. Das eine, die sexuelle Befriedigung, kann das andere, die fehlende Bezie-hung, nicht ersetzen.

Viele kennen das: Dass sie eine sexuell erfüllende Affäre hatten, aber es war partner-schaftlich nicht erbaulich. Und andersherum, eine Partnerschaft, die sexuell nicht so gut war, die aber viele andere Elemente hatte, die stimmig und stabil waren: geteilter Humor, gemeinsame Interessen, kompatibler Freundeskreis. Nicht selten gelingt es, jemanden zu finden, mit dem es passt und zu dem man im Grossen und Ganzen ja sagen kann. Das ist dann Liebe.

6.2. Gibt es den Versöhnungssex?

Durch eine körperliche Wiederannäherung nach einem Streit kann man sich vorüber-gehend von dem angstauslösenden Gedanken befreien, vom anderen abgelehnt und womöglich verlassen zu werden. Es geht dabei um die Furcht vor einem Bezie-hungsabbruch, um die Angst vor Bindungsverlust. Das sexuelle Erleben zeigt dann, dass der andere mich noch will. Das drückt sich dann in der Intensität und Erlebnis-tiefe der sexuelle Interaktion aus.

Wenn die Sexualität dieser Wiederannäherung dient, dann merken die Partner, dass sie trotz Streit mehr Übereinstimmungen als Verschiedenheiten empfinden. Sie mer-ken trotz des Streits, dass sie Zugang zueinander haben und die Zuneigung noch da ist. Das gelingt jedoch selten ohne vorherige verbale Kommunikation.

Die Partner treten danach wieder in einen positiven Austausch, in ein grosses Geben und Nehmen, wodurch sie sich wieder geborgen, zusammengehörig und angenom-men fühlen.

Geben bedeutet: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Anerkennung, Wertschätzung.
Nehmen bedeutet: Wahrnehmen, Ernst nehmen, Annehmen, Rannehmen, Durchneh-men. Das Gefühl von Zusammengehörigkeit fliesst dabei wieder zurück.

Es ist wichtig, Konflikte auszutragen. Viele Menschen kennen sich selbst zu wenig oder wissen nicht, wie man sich in guter Stimmung und verbunden mit dem anderen mit seinen Anliegen einbringen kann. Es kommt dann dazu, dass die eigenen Anlie-gen nur im Streit sichtbar werden für einen selbst oder auch, dass der andere erst dann erfahren kann, was das Gegenüber beschäftigt. Häufig erkennt man in einer Konflikteskalation erst Qualitäten in einer Beziehung, die vorher in einem Menschen erst geschlummert haben. Streit kann deshalb positiv sein, solange ein Paar sonst nicht über sich redet. Wenn man allerdings dauernd streitet, taugt das nicht dazu, sich besser kennenzulernen, sondern verletzt oder erniedrigt sogar,

6.3. Was ist zum Oralverkehr zu sagen?

Man kann eine Verbindung mit einem anderen Menschen herstellen wie bei einer Verschwörung. Dann ist der Oralverkehr nur dazu da, etwas Verbotenes gemeinsam zu unternehmen. Dabei nähert man sich allerdings nicht im gegenseitigen Verstehen an.
Durch die Internetpornografie hat sich der Oralverkehr dahingehend verwandelt, dass es wie ein Pflichtprogramm im Vorspiel erscheint, bevor es zur Vereinigung kommt. Steht diese im Hintergrund, fühlt man sich nicht geborgener und zugehöri-ger.
Zusätzlich kann der Oralverkehr dazu dienen, sich den anderen „vom Hals“ zu halten. Man macht etwas für den anderen oder für sich und nimmt den anderen als Men-schen gar nicht an, sondern will selbst gut dastehen oder versteckt damit, dass man sich entfernt halten will vom anderen.

6.4. Woher kommen Veränderungen im Erleben der Sexualität?

Wie bereits erwähnt spielt gemäss Ahlers die mediale Repräsentation von Sexualität ein grosse Rolle.
Er meint, dass seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine reaktionäre Tendenz in der Wis-senschaft erkennbar sei. Man starrt nur noch auf den Körper und seine Funktionen. Viele glauben, wir seien so etwas wie ferngesteuerte und fremdbestimmte Affen, festgelegt auf den Schienen der Evolution. Es ist zu beachten, dass Nervenbotenstof-fe nicht für unsere Gefühle verantwortlich sind und diese unser Verhalten und Erle-ben bestimmen. Nervenbotenstoffe verbreiten nur, was wir vorher erlebt haben. Neu-rotransmitter generieren keineswegs unser Erleben. Erlebnisse seien Ereignisse, die für uns von Bedeutung sind. Das vermitteln die Botenstoffe. (S. 37)

Die meisten Funktionsstörungen sind massgeblich verursacht durch internalisierten Leistungsdruck und daraus resultierender Versagensangst. Angst entsteht im Gehirn und das Gehirn ist ein Organ. Im Sexuellen haben wir es mit bio-psycho-sozialen Phänomenen zu tun. Es ist immer die Frage, welche körperlichen, sozialen und psy-chischen Faktoren dabei zusammenkommen.

7. Geschichtliche und kulturelle Hintergründe für die einseitige Betrachtung von Sexualität

Sexualität wird meist nur als Erregung oder Fortpflanzungsfunktion betrachtet. Das entsteht aus einer einseitigen kulturellen Tradition, die über die Erziehung unser heu-tiges Fühlen und Denken beeinflusst.

7.1. Schon in der Antike war die Idee vorhanden, dass es sich bei Sexualität um Er-regung und Fortpflanzung handeln würde. (S. 413)

7.2. In der römisch-katholischen Amtskirche wurde die Sexualität seit Jahrhunderten auf Erregung und Fortpflanzung reduziert. Erregung wird als schmuddelig angese-hen.
Fortpflanzung ist dabei erwünscht als Endzweck aller Sexualität. Nur dabei darf auch Erregung entstehen.
Dieses Konzept hat sich bis heute tradiert. Die Kirche koppelte die Erlebnisqualität von der Sexualität ab und nannte sie Himmel. Damit verhinderte sie zu erfassen, dass zwischen der Erregung und der Fortpflanzung die zentrale Qualität von Sexualität liegt: die Intimkommunikation zur Erfüllung unserer Bedürfnisse nach Zugehörig-keit, Angenommensein und Geborgenheit. Diese konnte in der Sexualität nicht er-kannt,bzw. toleriert werden.
Die katholische Kirche legte dann fest, dass man nur im Himmel zu Angenom-mensein, Geborgenheit und Zugehörigkeit komme, sofern man die Regeln eingehal-ten habe, die sie selbst aufgestellt hat. Dazu gehörte ausgerechnet zum Beispiel, dass sexuelle Liebe nicht ausserhalb der von der Kirche gestifteten Ehe und nur zur Fort-pflanzung erlebt werden darf. Konnten die Menschen sich nicht daran halten, muss-ten sie für die Sünden bezahlen – auch in barer Münze.

7.3. Diese einschränkende Tradition zeigt sich auch heute im Sexualkundeunterricht.
Kinder lernen dabei, wie der Penis in die Scheide kommt. Sie lernen nicht, warum ein Mann den Penis in die Scheide einführt und warum die Frau das will.
Sie lernen nicht, dass dies mit Beziehung, Kommunikation und Partnerschaft zu tun hat. (S. 413)
Kindern und Jugendlichen sollte vermittelt werden: Nicht die Schönheit bestimmt, was wir lieben, sondern die Liebe bestimmt, was wir schön finden. (Walter Schubert S. 43). Mit einer solchen Einführung müssten sie sich nicht einem Schönheitskult unterwerfen und sich in Frage stellen. Und sie müssten nicht einfach das scheinbar Richtige erledigen, sondern könnten sich dem anderen zuwenden und sich austau-schen, sich dabei näher kommen und sich gegenseitig besser verstehen.

Wie kommt es zu Stress – innere Unruhe – Nervosität – Angst ?

Einleitung Seminar 6./7. Mai 2023

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Interessierte an dem Thema: « Wie kommt es zu Stress. Nervosität, Unruhe Angst?»

Ich werde zeigen, dass wir sehr gut erklären können, wie ein Mensch in den ersten Lebensjahren unruhig, nervös, gestresst und unaufmerksam werden kann, wenn wir psychologisch denken lernen. Die Aufgabe der Psychologie besteht ja darin, nicht einfach ein Problem festzustellen und mit einem Namen zu benennen, sondern die psychologischen Schwierigkeiten im Leben aufzurollen und zu verstehen. und aufgrund dieser Erkenntnisse diese Schwierigkeiten zu beheben. Darum geht es in unserem Seminar an diesem Wochenende.

Wir arbeiten alle gemeinsam an beiden Tagen von 9.30 bis 11.30, von 13 bis 15 Uhr und von 16 bis 18 Uhr.

Zunächst gilt generell für die Entwicklung des psychischen Haushalts von jedem einzelnen Menschen folgende Erkenntnis:

  1. Die Hunderttausende Erlebnisse in den ersten vier, fünf oder sechs Lebensjahren vermitteln dem Kind ein Bild davon, wie die Welt aussieht. Das Kind deutet alle diese Erlebnisse von Anfang an. Es nimmt die Welt immer mehr so wahr, wie es sie gedeutet hat. Es trifft aktiv, aber unbewusst, eine Auswahl aus der Wirklichkeit. Wie und was es für wichtig hält, wie es fühlen kann, welche Schwerpunkte es für sein Denken und Fühlen auswählt, folgt mit den Jahren immer deutlicher einer eigenen, unbewussten Logik, man kann auch sagen einer privaten Logik. Aber nicht nur das Denken und Fühlen folgt dieser Logik, sondern das Kind versucht auch, in dieser selbst zurechtgezimmerten Welt möglichst so zu handeln, dass es sich vermeintlich gut zurechtfindet. Dabei kann es nicht anders, als sich so zu benehmen, wie es glaubt, am besten durch die Welt zu kommen oder zumindest am wenigsten Nachteile zu haben. Dabei können Überzeugungen entstehen, die für die Lebensbewältigung untauglich oder nachteilig sind, man sagt auch dysfunktional sind.

Unsere Aufgabe ist es deshalb nicht, wie traditionell üblich, das Verhalten von einem selbst und anderen möglichst gut zu kontrollieren und zu steuern. Es geht stattdessen darum, mit anderen zusammen zu erfassen, welche unbewusste Gefühls-Logik hinter einem Verhalten steht.

So können wir auch erforschen, welche Eindrücke wir oder andere aus den ersten Lebensjahren mitgenommen haben, so dass wir innerlich unruhig werden mussten. Also auch, welche Erfahrungen dazu geführt haben, dass wir hippelig sind, oder leicht abgelenkt, wir nicht bei einer Sache bleiben oder sie hinausschieben, auch aggressiv werden oder uns schnell in uns zurückziehen und abwesend sind. Wir wollen also verstehen, welche unbewusste Logik dahintersteht und wie sich diese in den ersten Lebensjahren entwickelt hat. Wir wollen nachempfinden lernen, wozu diese Logik dem Einzelnen unbewusst dient und welcher Antrieb sie auch aufrechterhält und welche unverstandenen Anteile verhindern, dass man das Leben gut bewältigen kann. Wenn das nach und nach gelingt, dann können wir die untauglichen oder störenden Gefühlsanteile verändern.

Ich möchte also gerne mit Ihnen heute verschiedene Aspekte durchleuchten, wie es zu einer generellen und anhaltenden inneren Unruhe kommen kann, zu allgemeiner Nervosität, die auch dazu führen kann, dass man sich schlecht konzentrieren kann, sich leicht ablenken lässt, sich schnell aufregt oder anstrengt, dass man Aufgaben liegen lässt, weil sie einem zu kompliziert oder unlösbar erscheinen oder ihre Lösungen vermutlich zu lange dauern und sich dann im Leben verheddert und sich deshalb mit aller Kraft dagegen wehrt, etwas nicht zu können. Und dafür zeige ich Ihnen auch anhand verschiedener Beispiele, wie die Unruhe oder auch das ADS/ADHS entstehen kann.

2. Wie kommt es zu einer starken inneren Unruhe und zu Angst?

Halten wir uns noch einmal vor Augen, wie ein Kind auf die Welt kommt:

  1. Das Menschenkind ist evolutionär darauf angelegt, sich in verschiedensten Lebenswelten zurechtfinden zu können. Deshalb wird der Mensch so geboren, dass er ganz offen ist dafür, so zu leben, wie es die vorgefundenen Situation nötig macht. Das heisst, er ist mit einer ausgesprochen hohen Lernfähigkeit im emotionalen und kognitiven Bereich ausgestattet.

Der grosse Teil der Verknüpfungen im Gehirn und damit die Entwicklung der Art, wie man das Leben bewältigt, findet nach der Geburt statt. Dafür braucht es eine besonders grosse Möglichkeit, in einem innigen, anhaltenden Austausch mit nahen Bezugspersonen ein angepasstes Fühlen, Denken und Handeln zu erwerben.

Das Kind ist deshalb darauf vorbereitet, zu kooperieren und die Entwicklung hängt davon ab, ob diese Kooperation zustande kommt und das Kind mit den Eltern in einen innigen Austausch kommt. Sind die Eltern durch ihr eigenes Aufwachsen in ihren emotionalen Fähigkeiten eingeschränkt, im Leben in eine innige und konstante Verbindung zu kommen, dann wird das Kind in seiner vorangepassten Möglichkeit zur emotionalen Nähe und kognitiven Entwicklung eingeschränkt.

Das hat zunächst nichts damit zu tun, wie viel Liebe die Eltern den Kindern geben wollen, sondern in welchem Masse sie in der Lage sind, sich angemessen, spontan und feinfühlig mit dem Kind anzufreunden. Und es hat auch damit zu tun, wie schnell sie sich selbst im Leben überfordert fühlen, wie gut sie sich im Leben geborgen fühlen und wie sie selbst ihr Leben mit anderen teilen können.

Gelingt den Eltern die gefühlsmässige Annäherung nicht, spricht man in der Bindungstheorie davon, dass Kinder unsicher gebunden sind, was zu einem unruhigen, zurückgezogenen und aufgeregten beziehungsweise ängstlichen Lebensstil führen kann.

Sind die Eltern aufgrund ihrer eigenen unbewussten Gefühle oder durch Drogen, massivem Alkoholkonsum oder psychischer Probleme zu wenig in der Lage, auf das Kind konstant einzugehen oder gar mit heftigen Affekten reagieren oder überraschend, emotional unstet handeln, dann entsteht im Kind eine noch stärkere Unruhe, die als desorganisiert beschrieben wird. Genauso gut kann ständiger Streit zwischen den Eltern oder eine ständige Ablehnung des Kindes oder gar Gewalt gegen das Kind so weit führen, dass es kein Vertrauen in sich und die Welt hat, so dass es innerlich immer unruhig ist.

  1. Die emotionale Bindung gelingt dann, wenn die Eltern zu Beginn des Lebens konstant ein verlässliches, ruhiges und besonnenes Gegenüber darstellen können. Das heisst, dass sie emotional zur Verfügung stehen, dass sie in der Lage sind, ein freudiges Hin- und Her mit ihrem Kind zu leben, die emotionalen und andere Signale des Kindes aufzunehmen und sie so zu beantworten, dass sie in einer innigen Verbindung das Leben so vorstellen, dass das Kind merkt, dass es wirksam ist und merkt, wie es das Leben am besten löst. Ein Kind fühlt sich dann wohl, wenn es merkt, dass es einen immer grösseren Teil des vorgefundenen Lebens selbst lösen kann, sich leicht Hilfe holen kann, wenn es nicht weiterkommt, und dabei merkt, dass es selbst etwas bewirken kann und sich zudem mit anderen gut abstimmen kann.
  1. Bei diesem Vorgang des Hineinlebens in die Welt können sich viele Fehler einschleichen, die nicht immer massiv daherkommen müssen. Die Eltern und andere Menschen können aufgrund ihrer eigenen unverstandenen spontanen Haltungen zum Leben dem Kind eine unvollständige oder ganz falsche Welt vorstellen und schwächen es damit.

Zum Beispiel kann es sein, dass die Eltern sehr nett zum eigenen Kind sind, aber selbst Vorbehalte oder sogar Angst davor haben, sich mit anderen Menschen näher einzulassen, sich keine Hilfe holen können oder sich bei anderen ganz aufgehoben fühlen. So kann es dazu kommen, dass sich das Kind ausserhalb der Familie immer unwohl und angespannt fühlt.

Es kann aber auch sein, dass Eltern übertrieben Angst davor haben, dass ihr Kind in der Nachbarschaft, im Kindergarten oder der Schule falsch behandelt wird, zu wenig gefördert oder gar abgewiesen wird. Dann glaubt das Kind immer mehr, dass es überall falsch behandelt wird und sich höchstens dagegen wehren kann und jemanden braucht, der ihm recht gibt. Und gelingt das nicht, wird das Kind zurückhaltend oder wird in seiner Not nervös.

Und es kann sein, dass Eltern nicht in der Lage sind, mit dem Kind zusammen herauszufinden, wie es nach und nach selbst Lösungen für die anstehenden Probleme mit anderen Kindern, im Kindergarten oder der Schule finden kann. Gelingt dieser Vorgang nicht, kann sich ein Kind ständig bedroht fühlen, nur weil es merkt, dass die Welt im Allgemeinen nicht so ist, dass alle seine Eindrücke und Befürchtungen bestätigt werden und es davon enthoben wird, sich mit anderen zu verständigen. Es fühlt sich dann sehr oft falsch verstanden und abgelehnt und glaubt auf sich aufmerksam machen zu müssen oder sich zurückzuziehen.

Genauso können Eltern aus lauter Liebe so weit kommen, dass sie möglichst alles so machen, dass das Kind immer Freude hat und sie deren Bedürfnisse gut wahrnehmen, ohne dass das Kind sich selbst selbstverständlich einbringen muss. Ein solches Kind fühlt sich viel zu schnell entwertet und abgelehnt, wird nervös und muss sich eventuell dagegen wehren.

  1. Es können sich aber auch Unsicherheiten im Leben einschleichen, weil das Kind von Anfang an die Welt auf eigene Art und Weise deutet. So kann es sein, dass es anfängt immer mehr zu glauben, es sei besonders schön, wenn es darauf warten kann, dass Mutter oder Vater oder beide auf es eingehen. Wenn die Eltern meinen, das Kind sei von Geburt an so, dass es zurückhaltend ist, dann können sie dem Kind nicht aus dieser verfehlten Betrachtungsweise heraushelfen. Es kann sich einschleichen, dass das Kind selbst sich weniger beteiligt, und dann unruhig und nervös wird, wenn die Eltern sich im Lauf des zunehmenden Alters oder bei Geburt von Geschwistern nicht mehr in gleicher Art und Weise kümmern können und sich das Kind dann abgewiesen fühlt.

Generell bedeutet dies, dass es bei der Erziehung nicht vorrangig darum geht, den Kindern mit der richtigen Erziehungsmethode zu begegnen, sondern sich innerlich mit dem Kind verbinden zu können und dabei immer wieder von Neuem zu erfassen und zu erfühlen, in welchem Gefühlszustand sich ein Kind befindet und nach welchen unerkannten Überzeugungen das Kind, versucht, sein Leben aufzubauen. Das ist ein Teil einer freiheitlich gefühlsverbundenen Erziehung.

  1. Ein Kind versucht auf eigene Art und Weise von Anfang an, eine als unangenehm empfundene Situation zu verändern. Es zieht sich beispielsweise zurück und merkt vielleicht, dass dann die Eltern spontan stärker darauf reagieren. Oder es ist vermehrt ungeduldig oder schreit und sucht damit nach der Aufmerksamkeit der Eltern.

Das kann so weit gehen, dass die Eltern mit grösster Zuwendung ungewollt und ständig einem Kind vermitteln, dass es seine Anstrengungen darin stecken sollte, mit Rückzug oder mit Ungeduldig-Sein oder mit Schreien die Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Fühlen sich dann die Eltern durch dieses unzufrieden scheinende Kind immer mehr abgelehnt und sind weniger spontan oder gar verzweifelt oder immer heftiger, dann wird das Kind noch verstärkt auf diese unbewusste Strategie zurückzugreifen versuchen und auf dieselbe Art und Weise mit Rückzug oder Unzufrieden-Sein oder Schreien noch mehr einfordern.

Das heisst folgendes: Erlebt ein Kind zum Beispiel, dass es sich dann wohlfühlt, wenn liebende Eltern gerne alles schnell oder sogar vorbeugend erfüllen, um das Kind nie unzufrieden zu lassen, ohne dass das Kind sich selbst aktiv beteiligt. Ein solches Kind kann sich vernachlässigt fühlen, wenn es diese Art der liebevollen Zuwendung nicht mehr in gleichem Masse erlebt, allein dadurch, dass es älter wird und nicht mehr alles in gleichem Masse erfüllt wird.

Bei der Geburt eines Geschwisters oder bei anderen Kindern oder in der Schule zeigt sich diese Einschränkung im Fühlen und Denken in besonderem Mass. Das Kind kann dann nicht anders, als unbewusst zu versuchen, die ursprünglich erlebte Gefühlswelt wieder herzustellen, indem es weint, schreit, sich zurückzieht, beleidigt ist. Gelingt es ihm nicht oder nicht vollständig, kann es nervös werden, sich dagegen auflehnen, heftig oder wütend werden, motorisch unruhig werden oder sich zurückziehen, wenn es in seiner Not nicht verstanden wird.

  1. Ich vertrete hier also die Ansicht, dass es nicht darum geht, den Kindern oder den Eltern einen Vorwurf machen zu können oder zu wollen. Wir haben es in unserer Kultur schwer zu erkennen, dass wir nicht irgendeinem Erziehungsstil folgen müssen. Auch wenn es den meisten naheliegt, aufgrund der eigenen Erziehung, nach einer Art zu suchen, durch die es möglichst keine Fehler in der Erziehung gibt. In einer freiheitlichen, gefühlsverbundenen Erziehung geht es darum, sich vorzustellen, was ein Kind oder Jugendlichen innerlich beschäftigt. Und gemeinsam zu erfassen, welche Fehldeutungen des Lebens und welche verfehlte Gefühlslogik hinter einem Fehlverhalten steht. Es geht wie gesagt weder darum, ein Fehlverhalten zu verharmlosen oder positiv umzudeuten noch darum, dieses Verhalten von aussen in eine andere Richtung zu steuern. Es geht stattdessen darum, zu erkennen, welche Gefühlsüberzeugungen hinter einem Symptom stehen, die man zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen verstehen und erfassen lernen kann.

Im Folgenden möchte ich diese Gedanken anhand unterschiedlicher Fallbeispiele von Kindern und Jugendlichen mit einer inneren Unruhe und Ablenkbarkeit darstellen und deren psychische Dynamik kurz umreissen.

4) Beispiele zur Veranschaulichung

1. Beispiel:

Ich beginne mit einem Beispiel, das der Psychoanalytiker Professor Hans Hopp in einem Beitrag auf der homepage der „adhs-konferenz“ dargestellt hat unter dem Titel: «Psychoanalytische Therapie des ADHS», das ich hier noch ausführlicher deute:

Jan stellte sich so dar, dass er mit der Mutter ständige Auseinandersetzungen hatte und bei kleinen Einschränkungen Wutanfälle entwickelte. Danach weinte er sehr, weil er mit der Mutter in einem guten Verhältnis sein wollte und sagte, dass er alles falsch mache. Er hatte zudem Angst vor allen Situationen, die ihm fremd waren.

Wie kann man sich diese Heftigkeit erklären? Jan war das erstgeborene Kind, das viel Aufmerksamkeit von den Eltern erhielt und sich sehr wohl fühlte. Nach 2 Jahren und 8 Monaten kam der jüngere Bruder auf die Welt, der im 1. Lebensjahr oft krank war, weshalb die Eltern in seiner Wahrnehmung ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Bruder lenkten. Man kann annehmen, dass das nicht so war, aber er konnte sich diese grosse Veränderung nicht erklären und versuchte, diese Zuwendung auf gleiche Art und Weise wieder zu erreichen, wie er das vermutlich schon vorher erfolgreich versucht hatte und was eine liebende Mutter oder ein liebender Vater zunächst meistens übersehen. Er entwickelte grosse Ängste, wenn sich die Eltern nicht um ihn herumbewegten und auf ihn sofort eingingen. Er versuchte die Eltern zu sich zu holen, indem er sich unzufrieden zeigte und sich ärgerte und wütend wurde. Was vorher nur selten nötig war, entwickelte er in immer stärkerem Ausmass, als der jüngere Bruder die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Als seine zunehmende Heftigkeit nichts nützte, um das vorherige, als schön erlebte Leben wieder herzustellen, wurde er innerlich immer verzweifelter und fing auch an, den Bruder zu plagen. Im Kindergarten wehrte er sich in gleicher Art und Weise dagegen, von der Mutter weggenommen zu werden und im Gefühl, dort keine besondere Aufmerksamkeit zu erhalten, wie er es in den ersten 3 Jahren erlebt hatte.

Das heisst, er geriet in Not und fühlte sich vollkommen zurückgestossen. Da er das Leben fast 3 Jahre anders kennengelernt hatte und sich darin wohlgefühlt hatte, versteht man sehr gut, dass er unbewusst zu einem verzweifelte Versuch greift, das Leben wieder so hinzubiegen, wie er es gekannt hatte. Da ihn niemand dabei verstand – auch wenn Kindergärtnerin und Mutter und Vater das Beste wollten und sehr viel versuchten – wurde seine Unruhe immer grösser. So zerstörte er zum Beispiel im Kindergarten ständig etwas und war aggressiv gegenüber Gleichaltrigen, die er bisher nicht als Freunde, sondern als Konkurrenten kennengelernt hatte.

Seine Mutter war entsetzt und beschämt über ihren Sohn. Sie konnte nicht erkennen, warum sie ihm nicht helfen konnte und unterstellte ihm – ohne es zu wollen – Bösartigkeit. Sie wusste nicht, dass sie Hilfe gebraucht hätte, weil sie ihren Sohn emotional nicht erfassen konnte. Ihr Mann hatte ihr die Erziehung übergeben und wusste genauso wenig, wie er ihr helfen konnte.

Sie bemerkte nicht, dass Jan in dieser ganzen Anspannung immer wieder in kleinen Andeutungen zeigte, dass er helfen wollte. Und war von seinem Auftreten so beeindruckt, dass sie hinter diesem heftigen Verhalten nicht bemerkte, dass Jan ganz verzweifelt war, auch traurig, und sich selbst kritisierte dafür, dass er alles falsch macht. Und sich berechtigt nicht verstanden fühlte, weil die Erwachsenen ihn mangels richtiger psychologischer Informationen nicht verstehen konnten. So hörte er überall, dass er ein schwieriges Kind sei und er konnte keinen Ausweg sehen, ausser dem, was er versuchte, nämlich sich zu wehren.

Die Eltern merkten auch nicht, dass er voller Ängste steckte vor allen Menschen, die er sich in seiner Heftigkeit nicht anmerken liess. Die Mutter kritisierte Jan immer öfter und wurde auch unbeherrscht, wenn Jan den kleinen Bruder plagte, und sie schlug ihn sogar zwischendurch. Da sie sich vor sich selbst schämte und Jan ihr leidtat, kuschelte sie danach mit dem Jungen. Jan wurde sich immer sicherer, dass er ständig und von allen kritisiert werde, auch wenn das oft gar nicht der Fall war. So aber wehrte er sich immer heftiger und entschiedener gegen die ganze Welt, die ihn nicht verstand.

Ich glaube, wenn man diese Deutung hört, kann jeder nachvollziehen, dass Jan in Aufruhr war. Und sich gegen alle meinte wehren zu müssen und gleichzeitig sich vorgeworfen hat, dass er selbst komisch sei. Wenn man diese Situation von aussen so gedeutet sieht und nicht darin verwickelt ist, dann erst liegt es nahe, was Jan braucht.

Er braucht zuerst eine Sicherheit, dass man das Problem lösen kann, weil man ihn besser versteht als er sich selbst. Denn er kann selbst nicht erklären, was ihn umtreibt, wenn wir es ihm nicht erklären.

Das ist die eigentliche Aufgabe von Psychologie und Pädagogik. Es geht nie darum, ein korrektes Verhalten heranzuzwingen – auch nicht mit Medikamenten, Ernährungsumstellungen usw.

Denn Jan erlebt sich dadurch noch verstärkt als behandeltes Objekt, was er schon als kleines Kind erlebt hat. Er baute seinen Gefühlshaushalt unbewusst darum herum, dass er selbst nichts zu einem anderen Leben beitragen kann, sondern dass er von Erwachsenen durch äussere Einflüsse zu einem richtigen Verhalten gebracht wird. Es ginge darum, ihm erstens zu verstehen zu geben, dass sein Handeln gut verständlich ist aufgrund seiner von der Kindheit geprägten Wahrnehmung und er ganz logisch handle, so wie er sich eben unbewusst seine Möglichkeiten im Leben zurechtgelegt habe.

Zweitens sollte er erfahren, dass man seine Gefühlslage gut nachvollziehen könne. Ja sogar, dass man vermutlich gleich handeln würde, wenn man wie er glauben würde, dass andere Menschen gegen einen seien.

Es geht drittens darum, ihm einsichtig zu machen, dass er ohne es zu wollen, sich darin getäuscht hat, wie andere Menschen zu ihm stehen und wie er sich einbringen kann.

Um diese Einsicht zu vermitteln, muss sich der Psychologe oder Pädagoge gleichwertig und nicht besser oder um Anerkennung ringend fühlen. Er muss Jan für die Zusammenarbeit gewinnen und ihm vermitteln, dass er dessen innere Haltung aufgrund seiner unbewussten Meinung über das Leben versteht.

So kann das Vertrauen von Jan wachsen und er wird merken, dass er seine dysfunktionalen Bewältigungsmuster aufgeben kann. Jan wird also seine innere Unruhe aufgeben können, wenn er Vertrauen fassen kann und dadurch mit dem Hilfeleistenden seine untaugliche Bewegungslinie beziehungsweise seine unangepassten Gefühls-Überzeugungen erfasst und er bessere Möglichkeiten erlebt und sieht, wie er sein Leben gut meistern kann.

Doch solange er sicher ist, wie er am besten auf sich aufmerksam machen kann, kann er seine Haltung gar nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Er wird also mit seiner Haltung weiterfahren müssen, seiner unbewussten Eigenlogik folgend. Unglücklicherweise meinen dann viele, die über die psychologischen Zusammenhänge nicht informiert sind, es handle sich dabei um einen genetischen Defekt, aber in Wirklichkeit hat ein Kind wie Mario schon eine klare Vorstellung davon, wie er durchs Leben kommen muss. Und kann freiwillig gar nicht davon Abstand nehmen, sogar wenn er es gerne täte.

Wenn wir ihm helfen wollen, müssen wir zuerst sein Zutrauen gewinnen, damit er uns gerne zuhört. Dann geht es darum, ihm nach und nach innerhalb dieser Vertrauensbeziehung den Bereich der Sozialbeziehungen auszuweiten. Wenn sein Interesse nicht mehr nur auf eine Person gerichtet ist, dann werden Unabhängigkeit und Mut wachsen, so dass er sich mit den konstruktiven Seiten des Lebens befassen kann und er dann in vielen Bereichen des Lebens reale Erfolge erzielen kann. Dann ist er nicht mehr auf seine Unruhe angewiesen, die ihm reale Erfolgen im Leben verhindern.

Max konnte nur durch geduldige Anleitung zu anderen Erlebnissen und zu einem anderen Leben angeleitet werden. Indem der Lehrer ihm erstens seine Stärken zeigte, zweitens mit ihm ohne viel Aufhebens in Verbindung kam, drittens ihm in seinen schlechten Fächern Hilfe gab, indem er nicht möglichst rasch die Lücken füllen, sondern ihm mehr Zutrauen in seine eigenen Kräfte geben wollte. Max strahlte, wenn er Erfolge hatte – auch vor der Klasse und verlor dann sein auffälliges Verhalten einige Tage lang. Max hatte zudem wie viele, die sich ihrer Haut erwehren müssen, eine scharfe Beobachtungsfähigkeit und hatte weniger Hemmungen als andere. Deshalb konnte er auch gute Aufsätze schreiben und kam so in der Klasse zur Geltung. Diese guten Seiten kann man in jedem Kind erkennen und es kann dann in der Klasse damit zur Geltung kommen, wenn man nicht übertreibt.

Alfons Simon fasst in Kurzform zusammen («Verstehen und Helfen» 2015, S. 45), welche Auswege es fim Falle einer solchen Unruhe gibt:

  • Der Vorgeschichte des Kindes nachforschen
  • Dem Kind eine Schonzeit zubilligen
  • Dem Kind eine Aufgabe in der Klasse zuteilen
  • Das Interesse des Kindes daran wachhalten
  • Dem Kind in dessen schwachen Fächern helfen
  • Die guten Seiten auf die rechte Weise pflegen
  • Die Klasse an den Fortschritten diese Kindes interessieren
  • Sich die Mitarbeit der Klassenkollegen sichern
  • Die Eltern zu gewinnen suchen
  • Wenn die ersten Erfolge sichtbar werden, ihm ein sachliches und objektives Bild von sich und dem Leben vermitteln
  • Der Gewinn für alle ist die praktisch erlebte Erkenntnis, dass niemand Unrecht tut, der nicht selbst in irgendeiner Not ist. Denn kein Glücklicher quält seine Mitmenschen. Die Klasse kann erleben, dass es allen gut geht, wenn es jedem gut geht und dass die Aussonderung aus der Klassengemeinschaft viele Erfahrungen für das Leben verhindert.

In diesem Beispiel gelang eine Veränderung der Symptome durch eine genaue Schulung und Einblick in die psychologischen Zusammenhänge und in den seelischen Haushalt des Kindes. Im Gegensatz dazu ist es bei der 9-jährigen Bernadette im Film «Systemsprenger» nicht gelungen, sie für ein gleichwertiges Zusammenleben zu gewinnen. Es wäre zu diskutieren, ob sie zu wenig Einblick in ihre kindlichen Verhaltensmuster und Gefühlsirrtümer erhalten konnte oder warum das Vertrauen nicht gross genug war.

Der Ausweg bestand zuerst einmal darin, dass man sie nicht mehr wie seit der Kinderkrippe ständig auf ihre Unruhe ansprach, sie immer wieder von Neuem untersuchte und beobachtete und von ihr wissen wollte, warum sie so unruhig sei, so dass sie längst glaubte, dass sie anders als andere sei und sich deshalb noch weiter ausserhalb fühlte. Sie hatte unvoreingenommene Zuwendung nicht mehr erlebt, es erschien ihr so, dass man sie einfach interessant fand, weil sie komisch ist. Bei den Betreuern erlebte sie ab dem 7. Lebensjahr immer mehr, dass sie mit ihren Fähigkeiten wahrgenommen wurde und sie Vertrauen bilden konnte, dass sie als Mensch ernst genommen wurde. Sie konnte ihre Gefühlslagen immer mehr erfassen und die Hintergründe ihrer irrtümlichen „Lebensmelodie“ wahrnehmen, indem die Betreuer mit ihr verstehend und verständnisvoll sprachen und halfen, ihre irrtümliche Meinung über das Leben zu erfassen und sich anderen zugehörig zu fühlen.

5. Abschließende Bemerkungen

  • Jeder Mensch ist verstehbar, wenn man die seelischen Zusammenhänge hinter einem Verhalten untersucht. Dazu müssen wir jeweils Anhaltspunkte finden, welche Erlebnisse ein Kind gemacht hat und wie es diese gedeutet hat. Wir können aus Berichten und Beschreibungen versuchen zu erhellen, welches Lebensmuster, welche Lebensmelodie ein Kind unbewusst entwickelt hat, welche Ziele es anstrebt, was es sich zutraut und welche Erlebnisse es zu verhindern versucht.
  • Jedes Kind möchte dazugehören und wie alle anderen mitmachen können. Wenn es aber nicht weiss wie, dann zeigt sich dieser Schwächezustand unter anderem in Form von Unruhe und Konzentrationsstörungen. Wir müssen dann annehmen, dass es durch seine bisherigen Erfahrungen mit den Menschen, seine ganz eigene Interpretation der Erlebnisse, noch nicht die notwendige gefühlsmässige Sicherheit im Leben erwerben konnte. Es kann deshalb auch nicht genug Mut aufbringen oder hat sogar bereits aufgegeben, richtig mitmachen zu können.
  • Es ist mannigfach, was ein Kind im Innersten beschäftigen kann. Dazu nur einige Beispiele:
  • Ein Kind ist zum Beispiel eifersüchtig und schaut deswegen die ganze Zeit darauf, ob es schneller oder langsamer ist als die anderen.
  • Ein anderes Kind fühlt sich ganz dumm und kann deshalb erst gar kein Buch aufschlagen, denn es glaubt bei allem, was es nicht versteht, das sei der Beweis für seine Dummheit.
  • Ein drittes Kind ist so unsicher, ob die anderen mit ihm zufrieden sind, dass es die anderen immer auf sich aufmerksam machen muss, auch wenn es längst weiß, dass das stört und es schon hundert Mal versprochen hat, sich ruhig zu benehmen.
  • Ein viertes Kind hat die Welt so kennengelernt, dass es sich abgelehnt fühlt, wenn ein momentaner Wunsch nicht erkannt oder nicht erfüllt wird; zu zweit geht es dann sehr gut. Ist es aber unter anderen Kindern, fühlt es sich alleine und verloren, wehrt sich ständig oder zieht sich zurück.
  • Ein fünftes Kind hat ständig Angst vor Kritik, vielleicht sogar vor Schlägen, wagt kaum zu denken, kommt nicht mit und ist deshalb ganz unruhig.
  • Ein sechstes Kind fühlt sich ständig wie unter Gegnern und denkt nur daran, sich nicht unterkriegen zu lassen, wehrt sich gegen jeden vermeintlichen Angriff und wird bei Kritik frech.
  • Ein siebtes Kind meint nur dann, wichtig zu sein, wenn es meistens bestimmen kann und fängt deshalb mit jedem Streit an, wenn ein anderes Kind auch Vorschläge bringt.
  • Ein achtes fühlt sich bereits bevormundet, wenn es eine Erklärung erhält – so wie bei seinem älteren Geschwister – und verschließt dann die Ohren.
  • Wenn wir uns verbindend, zuversichtlich und mit dem richtigen psychologischen Verständnis solidarisierend in einen anderen Menschen einfühlen und dabei Zusammenarbeit und keine Behandlung von aussen suchen, dann haben wir gute Chancen, diese teils heftigsten Phänomene von Unruhe, Nervosität, Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit oder Verträumtheit zu überwinden.

Echte Freundschaften – finden, pflegen, erhalten und neubeleben?

Institut für Psychologische Bildung, Beratung und Lebensgestaltung

Echte Freundschaften – finden, pflegen, erhalten und neu beleben?

Wann:             Samstag, 1. Juli 2023

Wo:                 In Meilen oder online

Kosten:           60.- SFr.  bar (per Überweisung oder Twint)

Verpflegung:  Im Restaurant oder selbst im Seminarraum

Ablauf:           Kennenlernen: 9.00

9.30- 11.30, 13.00 – 15.00, 16.00 – 18.00

Viele Menschen sehnen sich nach guten Freunden oder nach mehr guten Freunden. Andere finden sich damit ab, dass sie es schwer haben, Freunde zu finden oder wollen nicht mehr enttäuscht werden.  Andere sind unsicher, ob Freundschaften halten können und rechnen damit, dass sie schnell verloren gehen können. Wieder andere berufen sich auf ihre Lebenserfahrung, dass man sich nur auf sich selbst oder einen oder zwei Menschen verlassen kann. Mit diesen inneren Vorbehalten und Überzeugungen braucht es unter Bekannten und Freunden nur ein kleines oder grösseres Missverständnis und die Freundschaft endet unter Getöse oder schläft ein.

Wenn wir psychologisch genauer untersuchen, wird deutlich, dass sich sehr viele Menschen unbewusst schon in den ersten Lebensjahren den Eindruck zurechtgereimt haben, zu wenig gesehen zu werden, gegenüber anderen benachteiligt zu sein oder zurückgesetzt zu werden. Andere haben Angst vor den nächsten Beziehungspersonen entwickelt, so dass sie sich von näheren Beziehungen nicht viel versprechen, vorsichtig bleiben oder sich mit anderen zu sehr anstrengen oder kein Bestreben haben, ihr Leben mit anderen zu teilen oder sich auszutauschen und gerne zusammenzuarbeiten.

An diesem Seminar können wir erfassen, wie man diese Vorbehalte und das Misstrauen gegenüber dem Leben und Mitmenschen erfasst und wie man darüber hinwegkommt.

Bitte melden Sie sich mit angehängtem Anmeldetalon direkt im Internet an.Herzliche Grüsse

Anmeldung bei:
susanne.arnold@sunrise.ch
079 457 13 20,  056 664 20 28

Diethelm Raff
www.diethelm-raff.ch


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Innere Unruhe – Nervosität – ADHS: Ursprünge und Auswege bei Kindern und Jugendlichen

Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe, 13. Juli 2021

Sehr geehrte Damen und Herren, guten Abend. Ich freue mich, dass Sie sich alle zugeschaltet haben und hoffe, dass wir uns heute gut verständigen können – in doppeltem Sinn.

Wir befassen uns heute mit einem Thema, das für die psychologische Betrachtung des Menschen insgesamt sehr wichtig ist. Der Titel lautet ja heute: «Innere Unruhe – Nervosität – ADHS: Ursprünge und Auswege». Ich habe es mir überlegt, ob ich ADHS zum Titel dazunehmen soll, weil ich damit in eine zugespitzte Debatte eingreife. Schliesslich habe mich dazu entschlossen. Ich werde zeigen, dass wir sehr gut erklären können, wie ein Mensch in den ersten Lebensjahren unruhig, nervös, gestresst und unaufmerksam werden kann, wenn wir psychologisch denken lernen. Die Aufgabe der Psychologie und in diesem Fall auch der Pädagogik besteht ja darin, nicht einfach ein Problem festzustellen und mit einem Namen zu benennen, sondern die psychologischen Schwierigkeiten im Leben aufzurollen und zu verstehen. und aufgrund dieser Erkenntnisse diese Schwierigkeiten zu beheben. Dies darzustellen ist das Anliegen meiner folgenden Ausführungen.

1. Zusammenfassung

Zunächst gilt generell für die Entwicklung des psychischen Haushalts von jedem einzelnen Menschen folgende Erkenntnis: Die Hunderttausende Erlebnisse in den ersten vier, fünf oder sechs Lebensjahren vermitteln dem Kind ein Bild davon, wie die Welt aussieht. Das Kind deutet alle diese Erlebnisse von Anfang an. Es nimmt die Welt immer mehr so wahr, wie es sie gedeutet hat. Es trifft aktiv, aber unbewusst, eine Auswahl aus der Wirklichkeit. Wie und was es für wichtig hält, wie es fühlen kann, welche Schwerpunkte es für sein Denken und Fühlen auswählt, folgt mit den Jahren immer deutlicher einer eigenen, unbewussten Logik, man kann auch sagen einer privaten Logik. Aber nicht nur das Denken und Fühlen folgt dieser Logik, sondern das Kind versucht auch, in dieser selbst zurechtgezimmerten Welt möglichst so zu handeln, dass es sich vermeintlich gut zurechtfindet. Dabei kann es nicht anders, als sich so zu benehmen, wie es glaubt, am besten durch die Welt zu kommen oder zumindest am wenigsten Nachteile zu haben. Dabei können Überzeugungen entstehen, die für die Lebensbewältigung untauglich oder nachteilig sind, man sagt auch dysfunktional sind.

Unsere Aufgabe als Betroffene, Mitmenschen, als Erzieher, Lehrer und Helfer ist es deshalb nicht, wie traditionell üblich, das Verhalten von einem selbst und anderen möglichst gut zu kontrollieren und zu steuern. Es geht stattdessen darum, mit anderen zusammen zu erfassen, welche unbewusste Gefühls-Logik hinter einem Verhalten steht.

So können wir auch erforschen, welche Eindrücke wir oder andere aus den ersten Lebensjahren mitgenommen haben, so dass wir innerlich unruhig werden mussten. Also auch, welche Erfahrungen dazu geführt haben, dass wir hippelig sind, oder leicht abgelenkt, wir nicht bei einer Sache bleiben oder sie hinausschieben, auch aggressiv werden oder uns schnell in uns zurückziehen und abwesend sind. Wir wollen also verstehen, welche unbewusste Logik dahintersteht und wie sich diese in den ersten Lebensjahren entwickelt hat. Wir wollen nachempfinden lernen, wozu diese Logik dem Einzelnen unbewusst dient und welcher Antrieb sie auch aufrechterhält und welche unverstandenen Anteile verhindern, dass man das Leben gut bewältigen kann. Wenn das nach und nach gelingt, dann können wir die untauglichen oder störenden Gefühlsanteile verändern.

Ich möchte also gerne mit Ihnen heute verschiedene Aspekte durchleuchten, wie es zu einer generellen und anhaltenden inneren Unruhe kommen kann, zu allgemeiner Nervosität, die auch dazu führen kann, dass man sich schlecht konzentrieren kann, sich leicht ablenken lässt, sich schnell aufregt oder anstrengt, dass man Aufgaben liegen lässt, weil sie einem zu kompliziert oder unlösbar erscheinen oder ihre Lösungen vermutlich zu lange dauern und sich dann im Leben verheddert und sich deshalb mit aller Kraft dagegen wehrt, etwas nicht zu können. Und dafür zeige ich Ihnen auch anhand verschiedener Beispiele, wie die Unruhe oder auch das ADS/ADHS entstehen kann.

2. Psychische Situation und AD(H)S

Ich möchte an dieser Stelle ein paar Worte zu ADS und ADHS sagen: Die gerade erwähnten logisch nachvollziehbaren verfehlten Versuche, das Leben zu bewältigen sind schon seit 1785 beschrieben worden. Vor 100 Jahren hat der Tiefenpsychologe Dr. Alfred Adler bereits eine psychologische Erklärung für diese Phänomene geliefert zum Beispiel in seinen Büchern «Kindererziehung» und «Technik der Individualpsychologie 2: Vom Umgang mit Sorgenkindern».

In den 60er Jahren benutzten viele in der Schweiz – im Bemühen, diese Phänomene medizinisch zu erfassen – den Begriff  «Psychoorganisches Syndrom, (POS)», oder in Deutschland  «Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCR)» oder «hyperkinetische Störung». Seit den 1980 Jahren wird dasselbe ADS genannt, also ein sogenanntes Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Zusammen mit extremer Unruhe, der Hyperkinetik, heisst es ADHS.

Diese Bezeichnung wird verwendet unter folgenden Bedingungen: Wenn die allgemein bekannten normalen Stresszustände vorhanden sind wie «angespannt sein», so dass man «schnell abgelenkt» ist und «sich nicht längere Zeit auf eine Sache konzentrieren kann, die einen nicht interessiert». Um als ADS bezeichnet zu werden, müssen diese Phänomene schon seit der Kindheit auftreten, und das Phänomen anhaltend und mindestens 6 Monate vorliegen und in mindestens 2 Lebensbereichen auftreten. Und zudem muss jemand ungewöhnlich starke und nicht zielführende Aktivitäten im Vergleich zu den Gleichaltrigen zeigen.

Wenn ein Kind oder ein Erwachsener zusätzlich merkt, dass es im Leben mit den bisherigen Gefühls- und Denkmöglichkeiten nicht gut weiterkommt und sich dagegen wehrt, indem es sich schnell aufregt, einer unbewältigbar erscheinenden Aufgabe offensichtlich ausweicht, seine Unruhe allen zeigt, dann redet man von hyperaktiv und einige nennen diesen Zustand dann ADHS.

Ich habe die psychiatrischen Begriffe aus den anerkannten Klassifikationssystemen nicht gerne, wenn sie in der Alltagssprache verwendet werden, weil sie viele Menschen dazu verführt, zu meinen, man wisse damit mehr über die Ursachen dieser Phänomene.

Ich bin mir bewusst, dass diese genaue Beschreibung seriösen Ärzten und Psychologen dazu verhelfen kann, dass sie nicht zu oft die Diagnosen ADS oder ADHS stellen. Solche Art von Diagnosen lenken meiner Meinung leider sehr oft davon ab, wirklich herausfinden zu wollen oder herausfinden zu können, was das Kind beschäftigt. Die meisten, die solche Diagnosen benutzen, beschreiben damit nicht einfach die momentane psychische Notlage eines Menschen und die meist untauglichen Versuche der Betroffenen, sich im Leben zurechtzufinden. Sondern sie meinen oft, sie hätten dann mehr ausgesagt, als wenn die Betroffenen, Eltern oder Lehrer beschreiben, dass ein Kind unruhig, zappelig oder angetrieben ist.

Man versteht jedoch nicht mehr von einer Sache, wenn man psychische Zustände mit einem anderen Begriff benennt. Denn ADHS ist nichts anderes als eine klinische Diagnose. Wenn ich es richtig sehe, sind sich alle Fachleute einig, dass es sich dabei nur um eine Benennung handelt, die man gebraucht, um bestimmte Zustände bzw. Symptomkomplexe zu beschreiben und von anderen abgrenzen zu können. Jeder seriöse Forscher und Praktiker wird bestätigen, dass man damit noch nichts über die Ursache aussagt. Auch wenn viele fälschlicherweise glauben, damit sei eine Krankheit beschrieben, die mit einem Medikament zu behandeln sei.

Wir wissen nicht mehr über ein Kind, wenn sich dieses zum Beispiel leicht ablenken lässt und wir dazu dann «Ablenkungsstörung» oder «Aufmerksamkeitsdefizitstörung» sagen, auch wenn der Begriff kompetenter und beeindruckender klingt. Wir wissen auch nicht mehr, wenn wir statt einer extremen Unruhe «Hyperaktivitätsstörung» sagen. Oder wir wissen nicht mehr, wenn ein Kind unruhig ist und meint, es müsse alles im Auge haben und von einer Sache zur anderen geht und wir sagen dazu «Signalstörung» oder «Mangel an einem Reizfilter». Wir können uns dann zum Beispiel ein Teefilter oder ein Fliegengitter vorstellen, aber dieser Begriff sagt nichts darüber aus, wie denn dieser sogenannte Filter im Hirn aussehen könnte und wie es in den ersten Lebensjahren dazu gekommen ist, dass ein Kind nicht unterscheiden kann, was im Moment wichtig und unwichtig ist. Ich meine, wir kommen nur voran, wenn wir verstehen, wie jedes Kind und jeder Erwachsene individuell in solch eine Notlage gekommen ist, dass es in der Welt fast immer angespannt oder misstrauisch ist und dafür ein individuelles Bewältigungsmuster entwickelt hat, das auffällig ist und den Lebensvollzug stark einschränkt.

Ein Aspekt bei der Diskussion um ADHS ist ein faszinierender. Wir erkennen auch hier bei genauer Forschung, dass der menschliche Körper und die Psyche eine Einheit sind. Wenn wir diese Einheit annehmen, dann müssen wir bei jedem psychischen Vorgang auch eine Veränderung in unseren körperlichen Abläufen feststellen können. Eine ganze Forschungsrichtung hat tatsächlich bereits einige körperliche Veränderungen herausgefunden, sobald wir gestresst sind. Dazu gehört eine Veränderung der chemischen Überträgerstoffe, die die elektrischen Signale an den Nervenendungen chemisch zum nächsten Nerv leiten. Man weiss von einer Unterfunktion von Dopamin und vermutlich auch Noradrenalin bei Stress und dass mehr Cortisol gebildet wird und vermutet noch andere sogenannte Neurotransmitter, die sich verändern. Man kann diese Neurotransmitter im Notfall durch Zufuhr von Medikamenten oder Drogen kurzfristig verändern, hat damit aber noch nicht das Problem verändert, das zu vermehrten Stress führt.

Für Betroffene, für Eltern oder Lehrer, die angesichts der Notlage ihres Kindes oder eines Schülers oft verzweifelt sind und sich selbst hinterfragen und sogar Schuldgefühle haben, kann es entlastend sein, wenn man die Nervosität und die innere Unruhe als allgemein bekanntes Phänomen mit einem Namen benennt. So merkt man nicht nur, dass viele andere dasselbe auch kennen, sondern merkt auch, dass man nicht an sich selbst zweifeln muss. Auch derjenige, der solche Antriebe in sich kennt, erhält damit zuerst einmal den Hinweis, dass er nicht «komisch» oder «böse» ist.

Wenn man diese Vorgänge jedoch nicht nur mit ADS oder ADHS benennt, sondern auch eine Krankheit daraus ableitet, bekommt man als Betroffener und auch als Mitmensch leider den Eindruck, dass man nichts oder wenig dagegen tun kann und das lähmt die Möglichkeit, sich selbst oder den anderen besser verstehen zu wollen und zu können. Und deshalb keine Anleitung sucht, wie man das Problem lösen kann. Wenn man den Menschen als Produkt der Evolution betrachtet, erscheint es unlogisch, dass wie bei ADHS 10 % der menschlichen Art genetisch bedingt Normvarianten sein sollen, die im Leben so unruhig und angestrengt sind, dass sie ihr Leben nicht konzentriert und zielgerichtet angehen könnten und einen grossen Teil ihrer Lebensenergie dafür verwenden müssen, sich abzulenken vom eigentlichen Überleben. Viel eher erscheint es evolutionär nur sinnvoll, unruhig und in Stress zu kommen, wenn eine Gefahr lauert und danach wieder entspannt zu leben.

Gerald Hüther und Helmut Bonney haben in ihrem Buch «Neues vom Zappelphilipp» viele wichtigen Informationen zum Thema zusammengetragen.

Ich möchte heute also darlegen, dass diese Nervosität und innere Unruhe psychologisch verstehbar und erklärbar ist, wenn wir uns der freudigen Aufgabe zuwenden, uns jedem Menschen forschend anzunähern. Dann sehen wir auch, dass weder der Betroffene noch der Erziehende schuld an der Situation sind. Und wir sehen aber auch, dass wir den seelischen Haushalt verstehen und in Frage stellen können, wenn daraus Probleme im Leben entstehen. Wir stossen dabei auf untaugliche Gefühlsüberzeugungen und finden zudem «Lebensfallen» vor, die das Leben immer wieder erschweren.

3. Wie kommt es zu einer starken inneren Unruhe?

Halten wir uns noch einmal vor Augen, wie ein Kind auf die Welt kommt:

  1. Das Menschenkind ist evolutionär darauf angelegt, sich in verschiedensten Lebenswelten zurechtfinden zu können. Deshalb wird der Mensch so geboren, dass er ganz offen ist dafür, so zu leben, wie es die vorgefundenen Situation nötig macht. Das heisst, er ist mit einer ausgesprochen hohen Lernfähigkeit im emotionalen und kognitiven Bereich ausgestattet.

Der grosse Teil der Verknüpfungen im Gehirn und damit die Entwicklung der Art, wie man das Leben bewältigt, findet nach der Geburt statt. Dafür braucht es eine besonders grosse Möglichkeit, in einem innigen, anhaltenden Austausch mit nahen Bezugspersonen ein angepasstes Fühlen, Denken und Handeln zu erwerben.

Das Kind ist deshalb darauf vorbereitet, zu kooperieren und die Entwicklung hängt davon ab, ob diese Kooperation zustande kommt und das Kind mit den Eltern in einen innigen Austausch kommt. Sind die Eltern durch ihr eigenes Aufwachsen in ihren emotionalen Fähigkeiten eingeschränkt, im Leben in eine innige und konstante Verbindung zu kommen, dann wird das Kind in seiner vorangepassten Möglichkeit zur emotionalen Nähe und kognitiven Entwicklung eingeschränkt.

Das hat zunächst nichts damit zu tun, wie viel Liebe die Eltern den Kindern geben wollen, sondern in welchem Masse sie in der Lage sind, sich angemessen, spontan und feinfühlig mit dem Kind anzufreunden. Und es hat auch damit zu tun, wie schnell sie sich selbst im Leben überfordert fühlen, wie gut sie sich im Leben geborgen fühlen und wie sie selbst ihr Leben mit anderen teilen können.

Gelingt den Eltern die gefühlsmässige Annäherung nicht, spricht man in der Bindungstheorie davon, dass Kinder unsicher gebunden sind, was zu einem unruhigen, zurückgezogenen und aufgeregten beziehungsweise ängstlichen Lebensstil führen kann.

Sind die Eltern aufgrund ihrer eigenen unbewussten Gefühle oder durch Drogen, massivem Alkoholkonsum oder psychischer Probleme zu wenig in der Lage, auf das Kind konstant einzugehen oder gar mit heftigen Affekten reagieren oder überraschend, emotional unstet handeln, dann entsteht im Kind eine noch stärkere Unruhe, die als desorganisiert beschrieben wird. Genauso gut kann ständiger Streit zwischen den Eltern oder eine ständige Ablehnung des Kindes oder gar Gewalt gegen das Kind so weit führen, dass es kein Vertrauen in sich und die Welt hat, so dass es innerlich immer unruhig ist.

  1. Die emotionale Bindung gelingt dann, wenn die Eltern zu Beginn des Lebens konstant ein verlässliches, ruihges und besonnenes Gegenüber darstellen können. Das heisst, dass sie emotional zur Verfügung stehen, dass sie in der Lage sind, ein freudiges Hin- und Her mit ihrem Kind zu leben, die emotionalen und andere Signale des Kindes aufzunehmen und sie so zu beantworten, dass sie in einer innigen Verbindung das Leben so vorstellen, dass das Kind merkt, dass es wirksam ist und merkt, wie es das Leben am besten löst. Ein Kind fühlt sich dann wohl, wenn es merkt, dass es einen immer grösseren Teil des vorgefundenen Lebens selbst lösen kann, sich leicht Hilfe holen kann, wenn es nicht weiterkommt, und dabei merkt, dass es selbst etwas bewirken kann und sich zudem mit anderen gut abstimmen kann.
  2. Bei diesem Vorgang des Hineinlebens in die Welt können sich viele Fehler einschleichen, die nicht immer massiv daherkommen müssen. Die Eltern und andere Menschen können aufgrund ihrer eigenen unverstandenen spontanen Haltungen zum Leben dem Kind eine unvollständige oder ganz falsche Welt vorstellen und schwächen es damit.

Zum Beispiel kann es sein, dass die Eltern sehr nett zum eigenen Kind sind, aber selbst Vorbehalte oder sogar Angst davor haben, sich mit anderen Menschen näher einzulassen, sich keine Hilfe holen können oder sich bei anderen ganz aufgehoben fühlen. So kann es dazu kommen, dass sich das Kind ausserhalb der Familie immer unwohl und angespannt fühlt.

Es kann aber auch sein, dass Eltern übertrieben Angst davor haben, dass ihr Kind in der Nachbarschaft, im Kindergarten oder der Schule falsch behandelt wird, zu wenig gefördert oder gar abgewiesen wird. Dann glaubt das Kind immer mehr, dass es überall falsch behandelt wird und sich höchstens dagegen wehren kann und jemanden braucht, der ihm recht gibt. Und gelingt das nicht, wird das Kind zurückhaltend oder wird in seiner Not nervös.

Und es kann sein, dass Eltern nicht in der Lage sind, mit dem Kind zusammen herauszufinden, wie es nach und nach selbst Lösungen für die anstehenden Probleme mit anderen Kindern, im Kindergarten oder der Schule finden kann. Gelingt dieser Vorgang nicht, kann sich ein Kind ständig bedroht fühlen, nur weil es merkt, dass die Welt im Allgemeinen nicht so ist, dass alle seine Eindrücke und Befürchtungen bestätigt werden und es davon enthoben wird, sich mit anderen zu verständigen. Es fühlt sich dann sehr oft falsch verstanden und abgelehnt und glaubt auf sich aufmerksam machen zu müssen oder sich zurückzuziehen.

Genauso können Eltern aus lauter Liebe so weit kommen, dass sie möglichst alles so machen, dass das Kind immer Freude hat und sie deren Bedürfnisse gut wahrnehmen, ohne dass das Kind sich selbst selbstverständlich einbringen muss. Ein solches Kind fühlt sich viel zu schnell entwertet und abgelehnt, wird nervös und muss sich eventuell dagegen wehren.

  1. Es können sich aber auch Unsicherheiten im Leben einschleichen, weil das Kind von Anfang an die Welt auf eigene Art und Weise deutet. So kann es sein, dass es anfängt immer mehr zu glauben, es sei besonders schön, wenn es darauf warten kann, dass Mutter oder Vater oder beide auf es eingehen. Wenn die Eltern meinen, das Kind sei von Geburt an so, dass es zurückhaltend ist, dann können sie dem Kind nicht aus dieser verfehlten Betrachtungsweise heraushelfen. Es kann sich einschleichen, dass das Kind selbst sich weniger beteiligt, und dann unruhig und nervös wird, wenn die Eltern sich im Lauf des zunehmenden Alters oder bei Geburt von Geschwistern nicht mehr in gleicher Art und Weise kümmern können und sich das Kind dann abgewiesen fühlt.

Generell bedeutet dies, dass es bei der Erziehung nicht vorrangig darum geht, den Kindern mit der richtigen Erziehungsmethode zu begegnen, sondern sich innerlich mit dem Kind verbinden zu können und dabei immer wieder von Neuem zu erfassen und zu erfühlen, in welchem Gefühlszustand sich ein Kind befindet und nach welchen unerkannten Überzeugungen das Kind, versucht, sein Leben aufzubauen. Das ist ein Teil einer freiheitlich gefühlsverbundenen Erziehung.

  1. Ein Kind versucht auf eigene Art und Weise von Anfang an, eine als unangenehm empfundene Situation zu verändern. Es zieht sich beispielsweise zurück und merkt vielleicht, dass dann die Eltern spontan stärker darauf reagieren. Oder es ist vermehrt ungeduldig oder schreit und sucht damit nach der Aufmerksamkeit der Eltern.

Das kann so weit gehen, dass die Eltern mit grösster Zuwendung ungewollt und ständig einem Kind vermitteln, dass es seine Anstrengungen darin stecken sollte, mit Rückzug oder mit Ungeduldig-Sein oder mit Schreien die Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Fühlen sich dann die Eltern durch dieses unzufrieden scheinende Kind immer mehr abgelehnt und sind weniger spontan oder gar verzweifelt oder immer heftiger, dann wird das Kind noch verstärkt auf diese unbewusste Strategie zurückzugreifen versuchen und auf dieselbe Art und Weise mit Rückzug oder Unzufrieden-Sein oder Schreien noch mehr einfordern.

Das heisst folgendes: Erlebt ein Kind zum Beispiel, dass es sich dann wohlfühlt, wenn liebende Eltern gerne alles schnell oder sogar vorbeugend erfüllen, um das Kind nie unzufrieden zu lassen, ohne dass das Kind sich selbst aktiv beteiligt. Ein solches Kind kann sich vernachlässigt fühlen, wenn es diese Art der liebevollen Zuwendung nicht mehr in gleichem Masse erlebt, allein dadurch, dass es älter wird und nicht mehr alles in gleichem Masse erfüllt wird.

Bei der Geburt eines Geschwisters oder bei anderen Kindern oder in der Schule zeigt sich diese Einschränkung im Fühlen und Denken in besonderem Mass. Das Kind kann dann nicht anders, als unbewusst zu versuchen, die ursprünglich erlebte Gefühlswelt wieder herzustellen, indem es weint, schreit, sich zurückzieht, beleidigt ist. Gelingt es ihm nicht oder nicht vollständig, kann es nervös werden, sich dagegen auflehnen, heftig oder wütend werden, motorisch unruhig werden oder sich zurückziehen, wenn es in seiner Not nicht verstanden wird.

  1. Ich vertrete hier also die Ansicht, dass es nicht darum geht, den Kindern oder den Eltern einen Vorwurf machen zu können oder zu wollen. Wir haben es in unserer Kultur schwer zu erkennen, dass wir nicht irgendeinem Erziehungsstil folgen müssen. Auch wenn es den meisten naheliegt, aufgrund der eigenen Erziehung, nach einer Art zu suchen, durch die es möglichst keine Fehler in der Erziehung gibt. In einer freiheitlichen, gefühlsverbundenen Erziehung geht es darum, sich vorzustellen, was ein Kind oder Jugendlichen innerlich beschäftigt. Und gemeinsam zu erfassen, welche Fehldeutungen des Lebens und welche verfehlte Gefühlslogik hinter einem Fehlverhalten steht. Es geht wie gesagt weder darum, ein Fehlverhalten zu verharmlosen oder positiv umzudeuten noch darum, dieses Verhalten von aussen in eine andere Richtung zu steuern. Es geht stattdessen darum, zu erkennen, welche Gefühlsüberzeugungen hinter einem Symptom stehen, die man zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen verstehen und erfassen lernen kann.

Im Folgenden möchte ich diese Gedanken anhand unterschiedlicher Fallbeispiele von Kindern und Jugendlichen mit einer inneren Unruhe und Ablenkbarkeit darstellen und deren psychische Dynamik kurz umreissen.

4) Beispiele zur Veranschaulichung

1. Beispiel:

Ich beginne mit einem Beispiel, das der Psychoanalytiker Professor Hans Hopp in einem Beitrag auf der homepage der „adhs-konferenz“ dargestellt hat unter dem Titel: «Psychoanalytische Therapie des ADHS», das ich hier noch ausführlicher deute:

Jan stellte sich so dar, dass er mit der Mutter ständige Auseinandersetzungen hatte und bei kleinen Einschränkungen Wutanfälle entwickelte. Danach weinte er sehr, weil er mit der Mutter in einem guten Verhältnis sein wollte und sagte, dass er alles falsch mache. Er hatte zudem Angst vor allen Situationen, die ihm fremd waren.

Wie kann man sich diese Heftigkeit erklären? Jan war das erstgeborene Kind, das viel Aufmerksamkeit von den Eltern erhielt und sich sehr wohl fühlte. Nach 2 Jahren und 8 Monaten kam der jüngere Bruder auf die Welt, der im 1. Lebensjahr oft krank war, weshalb die Eltern in seiner Wahrnehmung ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Bruder lenkten. Man kann annehmen, dass das nicht so war, aber er konnte sich diese grosse Veränderung nicht erklären und versuchte, diese Zuwendung auf gleiche Art und Weise wieder zu erreichen, wie er das vermutlich schon vorher erfolgreich versucht hatte und was eine liebende Mutter oder ein liebender Vater zunächst meistens übersehen. Er entwickelte grosse Ängste, wenn sich die Eltern nicht um ihn herumbewegten und auf ihn sofort eingingen. Er versuchte die Eltern zu sich zu holen, indem er sich unzufrieden zeigte und sich ärgerte und wütend wurde. Was vorher nur selten nötig war, entwickelte er in immer stärkerem Ausmass, als der jüngere Bruder die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Als seine zunehmende Heftigkeit nichts nützte, um das vorherige, als schön erlebte Leben wieder herzustellen, wurde er innerlich immer verzweifelter und fing auch an, den Bruder zu plagen. Im Kindergarten wehrte er sich in gleicher Art und Weise dagegen, von der Mutter weggenommen zu werden und im Gefühl, dort keine besondere Aufmerksamkeit zu erhalten, wie er es in den ersten 3 Jahren erlebt hatte.

Das heisst, er geriet in Not und fühlte sich vollkommen zurückgestossen. Da er das Leben fast 3 Jahre anders kennengelernt hatte und sich darin wohlgefühlt hatte, versteht man sehr gut, dass er unbewusst zu einem verzweifelte Versuch greift, das Leben wieder so hinzubiegen, wie er es gekannt hatte. Da ihn niemand dabei verstand – auch wenn Kindergärtnerin und Mutter und Vater das Beste wollten und sehr viel versuchten – wurde seine Unruhe immer grösser. So zerstörte er zum Beispiel im Kindergarten ständig etwas und war aggressiv gegenüber Gleichaltrigen, die er bisher nicht als Freunde, sondern als Konkurrenten kennengelernt hatte.

Seine Mutter war entsetzt und beschämt über ihren Sohn. Sie konnte nicht erkennen, warum sie ihm nicht helfen konnte und unterstellte ihm – ohne es zu wollen – Bösartigkeit. Sie wusste nicht, dass sie Hilfe gebraucht hätte, weil sie ihren Sohn emotional nicht erfassen konnte. Ihr Mann hatte ihr die Erziehung übergeben und wusste genauso wenig, wie er ihr helfen konnte.

Sie bemerkte nicht, dass Jan in dieser ganzen Anspannung immer wieder in kleinen Andeutungen zeigte, dass er helfen wollte. Und war von seinem Auftreten so beeindruckt, dass sie hinter diesem heftigen Verhalten nicht bemerkte, dass Jan ganz verzweifelt war, auch traurig, und sich selbst kritisierte dafür, dass er alles falsch macht. Und sich berechtigt nicht verstanden fühlte, weil die Erwachsenen ihn mangels richtiger psychologischer Informationen nicht verstehen konnten. So hörte er überall, dass er ein schwieriges Kind sei und er konnte keinen Ausweg sehen, ausser dem, was er versuchte, nämlich sich zu wehren.

Die Eltern merkten auch nicht, dass er voller Ängste steckte vor allen Menschen, die er sich in seiner Heftigkeit nicht anmerken liess. Die Mutter kritisierte Jan immer öfter und wurde auch unbeherrscht, wenn Jan den kleinen Bruder plagte, und sie schlug ihn sogar zwischendurch. Da sie sich vor sich selbst schämte und Jan ihr leidtat, kuschelte sie danach mit dem Jungen. Jan wurde sich immer sicherer, dass er ständig und von allen kritisiert werde, auch wenn das oft gar nicht der Fall war. So aber wehrte er sich immer heftiger und entschiedener gegen die ganze Welt, die ihn nicht verstand.

Ich glaube, wenn man diese Deutung hört, kann jeder nachvollziehen, dass Jan in Aufruhr war. Und sich gegen alle meinte wehren zu müssen und gleichzeitig sich vorgeworfen hat, dass er selbst komisch sei. Wenn man diese Situation von aussen so gedeutet sieht und nicht darin verwickelt ist, dann erst liegt es nahe, was Jan braucht.

Er braucht zuerst eine Sicherheit, dass man das Problem lösen kann, weil man ihn besser versteht als er sich selbst. Denn er kann selbst nicht erklären, was ihn umtreibt, wenn wir es ihm nicht erklären.

Das ist die eigentliche Aufgabe von Psychologie und Pädagogik. Es geht nie darum, ein korrektes Verhalten heranzuzwingen – auch nicht mit Medikamenten, Ernährungsumstellungen usw.

Denn Jan erlebt sich dadurch noch verstärkt als behandeltes Objekt, was er schon als kleines Kind erlebt hat. Er baute seinen Gefühlshaushalt unbewusst darum herum, dass er selbst nichts zu einem anderen Leben beitragen kann, sondern dass er von Erwachsenen durch äussere Einflüsse zu einem richtigen Verhalten gebracht wird. Es ginge darum, ihm erstens zu verstehen zu geben, dass sein Handeln gut verständlich ist aufgrund seiner von der Kindheit geprägten Wahrnehmung und er ganz logisch handle, so wie er sich eben unbewusst seine Möglichkeiten im Leben zurechtgelegt habe.

Zweitens sollte er erfahren, dass man seine Gefühlslage gut nachvollziehen könne. Ja sogar, dass man vermutlich gleich handeln würde, wenn man wie er glauben würde, dass andere Menschen gegen einen seien.

Es geht drittens darum, ihm einsichtig zu machen, dass er ohne es zu wollen, sich darin getäuscht hat, wie andere Menschen zu ihm stehen und wie er sich einbringen kann.

Um diese Einsicht zu vermitteln, muss sich der Psychologe oder Pädagoge gleichwertig und nicht besser oder um Anerkennung ringend fühlen. Er muss Jan für die Zusammenarbeit gewinnen und ihm vermitteln, dass er dessen innere Haltung aufgrund seiner unbewussten Meinung über das Leben versteht.

So kann das Vertrauen von Jan wachsen und er wird merken, dass er seine dysfunktionalen Bewältigungsmuster aufgeben kann. Jan wird also seine innere Unruhe aufgeben können, wenn er Vertrauen fassen kann und dadurch mit dem Hilfeleistenden seine untaugliche Bewegungslinie beziehungsweise seine unangepassten Gefühls-Überzeugungen erfasst und er bessere Möglichkeiten erlebt und sieht, wie er sein Leben gut meistern kann.

2. Beispiel:

Das 2. Beispiel entnehme ich dem Buch „Kindererziehung“ von Alfred Adler aus dem Jahr 1930 – dort das erste Fallbeispiel über eine Schulverweigerung und heftigen Störungen des Schulunterrichts -, womit auch gezeigt werden soll, dass wir es nicht mit neuen Phänomenen zu tun haben:

Der 15-jährige Mario, ein von seiner Mutter verzärteltes Einzelkind, fiel schon als Baby durch ständiges Schreien auf. Seine Mutter schaukelte es deshalb ständig und gab ihm immer zu trinken. Die Mutter liess ihn nie allein. Der normal intelligente Junge konnte sich nicht längere Zeit mit einer Sache beschäftigen, war zu Hause schon als kleines Kind aufsässig, zerstörte alle Spielsachen, klammerte sich an die Mutter und «wollte» bestimmen, was zu Hause gilt. Er störte jahrelang den Unterricht in der Schule, war unaufmerksam, antwortete ungefragt, stellte ständig unpassende Fragen, redete während des Unterrichts laut mit Kollegen, hielt sich nicht an irgendwelche Vorgaben, schrieb ganz unleserlich und log.

Wegen seines Verhaltens wurde er für die Schule untragbar. Er behauptete gegenüber den Eltern, dass er eine Prüfung für das Gymnasium bestanden habe, ging nach den Ferien täglich in die Schule, kam auch regelmässig zum Mittagessen nach Hause, bis sich nach einigen Wochen herausstellte, dass er die Prüfung gar nicht bestanden hatte. Mit Hilfe einer Einzelbeschulung konnte er doch noch ins Gymnasium gehen, aber sein Verhalten dort blieb gleich wie bisher.

Seine Mutter versorgte ihn gut, der Vater versuchte die ständig zunehmende Verweigerung und das aggressive Auftreten von Mario durch Konsequenzen aufzulösen – auch durch Schläge.

Wie kann man sich Marios Verhalten erklären? Der Junge wurde nie allein gelassen und erlebe das Leben so, dass es normal und schön ist, wenn man ohne eigenes Dazutun immer in seinen Wünschen erfasst ist. Beim Spiel wurde er von der Mutter immer gestört, weil sich die Mutter zu viele Sorgen um ihn machte und ihn dadurch nicht eigenständig werden liess. Er versuchte mit allen Mitteln, sich diese besondere Zuwendung zu erhalten, indem er sich an seine Mutter klammerte.

Er nahm die Schläge des Vaters leicht und war danach wieder schnell vergnügt. Er schaltete also innerlich den Vater aus, und hielt sich an die Mutter, die ihm alles gewährte. Er glaubte immer mehr, ein gutes Leben zu haben, wenn er verzärtelt wird.

Er entwickelte unbewusst das Ziel, ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, nicht indem er sich an dem beteiligte, was gerade für alle interessant war, sondern indem er aktiv etwas unternahm, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sein Gefühlshaushalt entwickelte sich so, dass er sich nur dann wohl fühlen konnte. Er konnte keine Lust und kein Interesse daran entwickeln, sich im Leben mit etwas zu befassen, was ihm andere vorstellen. Er fühlte sich schon gedemütigt, wenn er sich anderen anschliessen sollte, auch Erwachsenen und musste deshalb seine Kräfte daransetzen, die anderen auf seine zufälligen Impulse hin auszurichten.

Stellen wir uns wie immer die Frage, was ein Kind unternehmen kann, das unbewusst das Ziel anstrebt, von anderen immer besondere oder einzigartige Aufmerksamkeit zu erhalten. In dieser Logik ist es intelligent und eines der besten unbewussten Mittel, eine ständige äussere Unruhe aufzubringen. Denn dann müssen die anderen reagieren, auch wenn dies öfter mit ablehnenden Gefühlen verbunden ist. Wenn das Kind in Not kommt, weil es sicher ist, zu wenig Aufmerksamkeit zu haben und doch aktiv ist, dann wird es das in Kauf nehmen, ja sogar als Bestätigung sehen, dass es auf dem richtigen Weg ist.

Wenn man dieses unbewusste Ziel hinter dem störenden Verhalten nicht sieht, versucht man mit Appellen und mit «Konsequenzen», heute auch mit Gesprächen oder Verträgen, zu bewirken, dass das Kind dieses Verhalten sein lässt. Ein Kind wie Mario nimmt das nicht nur unbewusst in Kauf, sondern er trainiert damit seine irrtümliche Art der Lebensbewältigung mithilfe auch vieler Fachleute, die es gut meinen.

Auch wenn er sich reuig und willig zeigt, dann bleibt er doch unruhig. Denn wenn er sich ruhig und angepasst verhalten würde, dann fehlte ihm die spezielle Aufmerksamkeit, die er glaubt, nur durch diese Unruhe haben zu können. Wenn er ermahnt wird oder mit positiven Verstärkern abgelenkt werden soll, unterbricht Mario manchmal seine unruhige Art.

Doch solange er sicher ist, wie er am besten auf sich aufmerksam machen kann, kann er seine Haltung gar nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Er wird also mit seiner Haltung weiterfahren müssen, seiner unbewussten Eigenlogik folgend. Unglücklicherweise meinen dann viele, die über die psychologischen Zusammenhänge nicht informiert sind, es handle sich dabei um einen genetischen Defekt, aber in Wirklichkeit hat ein Kind wie Mario schon eine klare Vorstellung davon, wie er durchs Leben kommen muss. Und kann freiwillig gar nicht davon Abstand nehmen, sogar wenn er es gerne täte.

Wir stellen bei Mario fest, dass er schulisch immer gut war. Er hatte jedoch keine Freunde, weil er sich nur dann wohl fühlen konnte und genügend Aufmerksamkeit empfand, wenn er die Führerrolle übernahm. Mario versuchte also in seinem Ehrgeiz ständig, den anderen Anweisung zu geben und nur dadurch Bedeutung zu empfinden. Von aussen gesehen konnte das nur ausnahmsweise gelingen, meist schreckte er die anderen stattdessen ab.

Er sass also in einer Lebensfalle, weil er ständig etwas anstreben musste, was in der Realität zum Gegenteil führte. Sein Ehrgeiz machte ihn also schwach. Seine Sozialgefühle hatte er nur bei der Mutter entwickelt. Da sie ihn nicht mit anderen verbinden konnte, sondern bei anderen den Fehler suchte und ihm so nicht aus seiner Lebensfalle heraushelfen konnte, fehlte ihm das Interesse an anderen. Da sie ihm so vieles abgenommen hatte und ihn durch ständige Unterbrechungen sogar daran hinderte, im freien Spiel seine Fähigkeiten zu entwickeln, konnte er vieles im Leben nicht selbst bewältigen.

So entwickelte er – wie bei allen Formen der Verzärtelung – ein schwaches Selbstwertgefühl. Darum interessierte ihn auch sehr wenig. Diese Schwäche im Leben führte dazu, dass er alles unvollendet liess. Er hatte – berechtigte – Angst davor, fast überall kein gutes Ergebnis zeigen zu können. Weil er nicht an sich selbst glaubte, vertrödelte er seine Zeit und war selten konzentriert bei der Sache. Nach aussen zeigte er sich immer optimistisch, denn er baute darauf, dass seine Mutter alles für ihn erledigte.

Wenn wir ihm helfen wollen, müssen wir zuerst sein Zutrauen gewinnen, damit er uns gerne zuhört. Dann geht es darum, ihm nach und nach innerhalb dieser Vertrauensbeziehung den Bereich der Sozialbeziehungen auszuweiten. Wenn sein Interesse nicht mehr nur auf eine Person gerichtet ist, dann werden Unabhängigkeit und Mut wachsen, so dass er sich mit den konstruktiven Seiten des Lebens befassen kann und er dann in vielen Bereichen des Lebens reale Erfolge erzielen kann. Dann ist er nicht mehr auf seine Unruhe angewiesen, die ihm reale Erfolgen im Leben verhindern.

3. Beispiel

Das 3. Beispiel von Max entnehme ich dem Buch «Verstehen und Helfen» des Pädagogikprofessors Alfons Simon von 1951. Dieses Buch kann ich Ihnen vermitteln, falls Sie Interesse haben. Dieses Beispiel ist auch im Buch «Einführung in die individualpsychologische Pädagogik» von Professor Jürg Rüedi 1995 wiedergegeben worden. In diesem Beispiel von Max wurde genau dargestellt, wie ein sogenannt brutales, störendes Kind verstanden werden kann, wenn man die seelischen Zusammenhänge erfasst und Max innerhalb und mithilfe der ganzen Klasse geholfen werden kann.

Der 11-jährige Max war der frechste Schüler in der Schule seit langem. Er war der kleinste und schwächste Schüler mit scheuem und abweisendem Blick. Um ihn herum war ewige Unruhe und Streit. Max störte seine Nachbarn, entwendete Stifte und zerbrach sie, nach Berührungen durch andere bekam er Wutanfälle. Er plagte auch ganz kleine Kinder. Liebende Aufmerksamkeit, Besprechungen, Mahnungen Warnungen, Drohungen und Massnahmen halfen nichts. Viele dachten daran, dass er genetisch bedingt asozial sei.

Bei genauerem Hinsehen stellte sich seine psychische Situation folgendermassen dar:

Max war Kind einer alleinerziehenden Mutter mit einem zwei Jahre älteren Bruder, beide von zwei verschiedenen Vätern. Die ganztägig arbeitende Mutter brachte ihre Kinder unter der Woche zu einer Pflegemutter, die ihn weniger liebte als seinen Bruder, weil Max immer bettnässte und ständig krank war. Max fühlte sich gegenüber seinem Bruder  berechtigt ständig zurückgesetzt. Er war abgeschreckt, misstrauisch und fühlte sich bald ungeliebt. Entsprechend kam Max mit anderen Kindern nie gut aus. Die Welt behandelte ihn als Last und er stellte sich darauf ein.

Als er 6 war, heiratete die Mutter. Er kam von der Pflegefamilie zu ihr und seinem Stiefvater, der jedoch ständig alkoholisiert war, fremd ging und seine Mutter oft heftig bedrohte. Er wurde zum engen Vertrauten seiner Mutter, die sich bald wieder scheiden liess und sich enttäuscht von allen Menschen zurückzog und selbst Hilfe brauchte. Sein Misstrauen gegenüber den Menschen wurde durch die Mutter bestärkt.

Er begegnete allen mit Misstrauen und wurde immer wieder von neuem darin bestätigt. Sie verteidigte ihren Sohn gegen alle anderen, auch wenn er diese – wie so oft – geplagt hatte. Er half der Mutter in allen Lagen, anderen aber nicht.

In der Schule gelang es zunächst nicht, das mitgebrachte Misstrauen durch wohlwollende, einsichtige und geduldige Anleitung zu zerstreuen. Das gelingt nur, wenn die Lehrperson nicht bei den ersten grösseren Schwierigkeiten von einer unveränderlichen Anlage ausgeht. Und zusätzlich braucht sie ein gewisses Mass an psychologischen Einsichten in die kindliche Entwicklung. Die Lehrperson darf auch nicht am äusseren Erscheinungsbild hängen bleiben und darf ihre Kinder nicht nach Typen, Verhaltensweisen oder Diagnosen klassifizieren.

Da seine Lehrerin das nicht wusste, erlebte Max viele Unfreundlichkeiten, Hässlichkeiten, Demütigungen und Blossstellungen von der Lehrerin und den Klassenkameraden. Er hatte damit den endgültigen Beweis, dass er sich auf nichts im Leben freuen, dass man niemandem ausser der Mutter trauen kann, und dass alle Menschen seine Feinde seien.

Er hat keinen Ausweg, wie er zu Anerkennung kommen kann. Er müsste sich selbst aufgeben, indem er nur noch passiv werden würde – im Grunde genommen autistisch. Aus dem «Ich kann nicht» machte er ein «Ich will nicht». Mit dieser psychischen Wendung konnte er alle Ablehnungserlebnisse an sich abprallen lassen.

Und Max setzte sich unbewusst das Ziel, sich mit allen Mitteln behaupten zu wollen, koste es, was es wolle. Also nahm er sich als schwächlicher Mensch die kleinen Kinder vor. Da er beim Lernen versagte, kämpfte er gegen alle Gleichaltrigen, auch wenn er dafür bestraft wurde. Bei der Mutter fand er jedoch Trost. Er erlebte seine Bedeutung darin, dass er bestimmte, ob in der Klasse gearbeitet werden konnte oder nicht. Wenn der Lehrer ungeduldig wurde, erlebte er sich als der Stärkere. Und andere bewunderten ihn noch heimlich dafür.

Max konnte nur durch geduldige Anleitung zu anderen Erlebnissen und zu einem anderen Leben angeleitet werden. Indem der Lehrer ihm erstens seine Stärken zeigte, zweitens mit ihm ohne viel Aufhebens in Verbindung kam, drittens ihm in seinen schlechten Fächern Hilfe gab, indem er nicht möglichst rasch die Lücken füllen, sondern ihm mehr Zutrauen in seine eigenen Kräfte geben wollte. Max strahlte, wenn er Erfolge hatte – auch vor der Klasse und verlor dann sein auffälliges Verhalten einige Tage lang. Max hatte zudem wie viele, die sich ihrer Haut erwehren müssen, eine scharfe Beobachtungsfähigkeit und hatte weniger Hemmungen als andere. Deshalb konnte er auch gute Aufsätze schreiben und kam so in der Klasse zur Geltung. Diese guten Seiten kann man in jedem Kind erkennen und es kann dann in der Klasse damit zur Geltung kommen, wenn man nicht übertreibt.

Alfons Simon fasst in Kurzform zusammen («Verstehen und Helfen» 2015, S. 45), welche Auswege es fim Falle einer solchen Unruhe gibt:

  • Der Vorgeschichte des Kindes nachforschen
  • Dem Kind eine Schonzeit zubilligen
  • Dem Kind eine Aufgabe in der Klasse zuteilen
  • Das Interesse des Kindes daran wachhalten
  • Dem Kind in dessen schwachen Fächern helfen
  • Die guten Seiten auf die rechte Weise pflegen
  • Die Klasse an den Fortschritten diese Kindes interessieren
  • Sich die Mitarbeit der Klassenkollegen sichern
  • Die Eltern zu gewinnen suchen
  • Wenn die ersten Erfolge sichtbar werden, ihm ein sachliches und objektives Bild von sich und dem Leben vermitteln
  • Der Gewinn für alle ist die praktisch erlebte Erkenntnis, dass niemand Unrecht tut, der nicht selbst in irgendeiner Not ist. Denn kein Glücklicher quält seine Mitmenschen. Die Klasse kann erleben, dass es allen gut geht, wenn es jedem gut geht und dass die Aussonderung aus der Klassengemeinschaft viele Erfahrungen für das Leben verhindert.

In diesem Beispiel gelang eine Veränderung der Symptome durch eine genaue Schulung und Einblick in die psychologischen Zusammenhänge und in den seelischen Haushalt des Kindes. Im Gegensatz dazu ist es bei der 9-jährigen Bernadette im Film «Systemsprenger» nicht gelungen, sie für ein gleichwertiges Zusammenleben zu gewinnen. Es wäre zu diskutieren, ob sie zu wenig Einblick in ihre kindlichen Verhaltensmuster und Gefühlsirrtümer erhalten konnte oder warum das Vertrauen nicht gross genug war.

4. Beispiel:

Ich möchte mit Ihnen noch ein 4. Beispiel durchdenken – die 7jährige Sophia. Sie ist in der Schule zurückhaltend und kann nicht gut aufpassen. Sie sitzt oft abseits von ihren Kolleginnen und schaut vor sich hin. Sie denkt schnell an andere Dinge, wenn sie sich konzentrieren sollte und sie vergisst schnell, was sie gelernt hat. Sie schaut traurig in die Welt.

Wie ist sie gross geworden? Sophia wuchs mit ihren beiden Eltern auf. Ihr Vater war streng und sehr laut, wusste, was richtig und falsch ist und setzte das auch durch. Sophia hatte oft Angst. Die Eltern hatten ständig heftige Auseinandersetzungen, weil die Mutter das autoritäre Verhalten des Vaters gegenüber der Tochter ablehnte. Die Mutter liess sich von der Lautstärke des Vaters schnell einschüchtern und war emotional oft absorbiert und unglücklich in ihrer Lebenslage, so dass sie sich ihrer Tochter auch nicht konstant zuwenden konnte. Die jungen Eltern hatten wenig Einkommen, der Vater arbeitete nur temporär. So musste die Mutter jeweils morgens arbeiten gehen, als Sophia 12 Monate alt war. Eine Cannabis konsumierende junge Frau sollte sich am Morgen um Sophia kümmern, doch meistens liess sie Sophia stundenlang schreien und war am Schlafen. Sophia fing in dieser Zeit an, in der Nacht mit dem Kopf hin-und herzupendeln, was sie nie mehr loswurde   ein Ausdruck emotionalen Mangels. Sophia hatte ständig Ängste und schreckte bei jedem Streit zurück und hielt sich die Ohren zu. Als sie 2 1/2 war, kam noch ein Bruder dazu. Sie plagte ihn täglich. Er nahm in ihrer Wahrnehmung die wenige emotionale Wärme weg. Sie zog sich sonst aber zurück und spielte stundenlang mit Legos und Puppen, wo sie von niemandem gestört wurde und entwickelte dabei ein grosses Interesse. Waren jedoch die Eltern zu Hause, versuchte sie zunächst, diese mit den unmöglichsten Mitteln für sich zu interessieren. Der Vater versuchte, ihre Unruhe mit „Grenzen setzen“ und Heftigkeit im Zaum zu halten, was sie manchmal unter Zuhilfenahme aller Kräfte erreichen konnte, aber sich umso mehr anstrengte und noch nervöser wurde.

Der Ausweg bestand zuerst einmal darin, dass man sie nicht mehr wie seit der Kinderkrippe ständig auf ihre Unruhe ansprach, sie immer wieder von Neuem untersuchte und beobachtete und von ihr wissen wollte, warum sie so unruhig sei, so dass sie längst glaubte, dass sie anders als andere sei und sich deshalb noch weiter ausserhalb fühlte. Sie hatte unvoreingenommene Zuwendung nicht mehr erlebt, es erschien ihr so, dass man sie einfach interessant fand, weil sie komisch ist. Bei den Betreuern erlebte sie ab dem 7. Lebensjahr immer mehr, dass sie mit ihren Fähigkeiten wahrgenommen wurde und sie Vertrauen bilden konnte, dass sie als Mensch ernst genommen wurde. Sie konnte ihre Gefühlslagen immer mehr erfassen und die Hintergründe ihrer irrtümlichen „Lebensmelodie“ wahrnehmen, indem die Betreuer mit ihr verstehend und verständnisvoll sprachen und halfen, ihre irrtümliche Meinung über das Leben zu erfassen und sich anderen zugehörig zu fühlen.

5. Abschliessende Bemerkungen

  • Jedes Kind ist verstehbar, wenn man die seelischen Zusammenhänge hinter einem Verhalten untersucht. Dazu müssen wir jeweils Anhaltspunkte finden, welche Erlebnisse ein Kind gemacht hat und wie es diese gedeutet hat. Wir können aus Berichten und Beschreibungen versuchen zu erhellen, welches Lebensmuster, welche Lebensmelodie ein Kind unbewusst entwickelt hat, welche Ziele es anstrebt, was es sich zutraut und welche Erlebnisse es zu verhindern versucht.
  • Jedes Kind möchte dazugehören und wie alle anderen mitmachen können. Wenn es aber nicht weiss wie, dann zeigt sich dieser Schwächezustand unter anderem in Form von Unruhe und Konzentrationsstörungen. Wir müssen dann annehmen, dass es durch seine bisherigen Erfahrungen mit den Menschen, seine ganz eigene Interpretation der Erlebnisse, noch nicht die notwendige gefühlsmässige Sicherheit im Leben erwerben konnte. Es kann deshalb auch nicht genug Mut aufbringen oder hat sogar bereits aufgegeben, richtig mitmachen zu können.
  • Es ist mannigfach, was ein Kind im Innersten beschäftigen kann. Dazu nur einige Beispiele:
  • Ein Kind ist zum Beispiel eifersüchtig und schaut deswegen die ganze Zeit darauf, ob es schneller oder langsamer ist als die anderen.
  • Ein anderes Kind fühlt sich ganz dumm und kann deshalb erst gar kein Buch aufschlagen, denn es glaubt bei allem, was es nicht versteht, das sei der Beweis für seine Dummheit.
  • Ein drittes Kind ist so unsicher, ob die anderen mit ihm zufrieden sind, dass es die anderen immer auf sich aufmerksam machen muss, auch wenn es längst weiss, dass das stört und es schon hundert Mal versprochen hat, sich ruhig zu benehmen.
  • Ein viertes Kind hat die Welt so kennengelernt, dass es sich abgelehnt fühlt, wenn ein momentaner Wunsch nicht erkannt oder nicht erfüllt wird; zu zweit geht es dann sehr gut. Ist es aber unter anderen Kindern, fühlt es sich alleine und verloren, wehrt sich ständig oder zieht sich zurück.
  • Ein fünftes Kind hat ständig Angst vor Kritik, vielleicht sogar vor Schlägen, wagt kaum zu denken, kommt nicht mit und ist deshalb ganz unruhig.
  • Ein sechstes Kind fühlt sich ständig wie unter Gegnern und denkt nur daran, sich nicht unterkriegen zu lassen, wehrt sich gegen jeden vermeintlichen Angriff und wird bei Kritik frech.
  • Ein siebtes Kind meint nur dann, wichtig zu sein, wenn es meistens bestimmen kann und fängt deshalb mit jedem Streit an, wenn ein anderes Kind auch Vorschläge bringt.
  • Ein achtes fühlt sich bereits bevormundet, wenn es eine Erklärung erhält – so wie bei seinem älteren Geschwister – und verschliesst dann die Ohren.
  • Wenn wir uns verbindend, zuversichtlich und mit dem richtigen psychologischen Verständnis solidarisierend in einen anderen Menschen einfühlen und dabei Zusammenarbeit und keine Behandlung von aussen suchen, dann haben wir gute Chancen, diese teils heftigsten Phänomene von Unruhe, Nervosität, Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit oder Verträumtheit zu überwinden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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diethelm.raff@aol.com

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Interview von Judith Haferland und ein Partnerschaftsseminar (12.2.2023)

Diethelm Raff in einem Interview mit Judith Haferland

https://www.diereisedeineslebens.de/

Tradierte kulturelle Irrtümer | Macht, Distanz, Empfindlichkeit vs. Sozialnatur | Angst, Misstrauen vs. Kooperation & Zugehörigkeit | Tiefenpsychologie / gefühlsverbundene Gemeinschaft, forschend Vertrauen bilden | Gefühlswandlung statt Konflikte

Ankündigung eines Partnerschaftsseminar am 12. Februar, 17 bis 19 Uhr

Die Art, wie wir das Leben um uns herum wahrnehmen, deuten und darauf reagieren, ist in den ersten Lebensjahren entstanden. Im Laufe der Jahre sind wir uns unbewusst immer sicherer geworden, was wir erwarten können, wovor wir Angst haben und wo wir vorsichtig sein müssen, wieviel Vertrauen wir aufbringen und mit welchen Deutungen, Emotionen und Grundüberzeugungen wir scheinbar am besten durchs Leben kommen. Spätestens in einer Partnerschaft oder in Gemeinschaften kommen diese Grundüberzeugungen und oft falsch verknüpften Gefühlsmuster und Deutungen an die Oberfläche. Voller Hoffnung schließen sich die meisten Menschen in Partnerschaften oder in Gemeinschaften zusammen, um gemeinsam das Leben zu gestalten. Dabei kommt es schnell zu Missverständnissen bis hin zu Zerwürfnissen. Unsere verschiedenen Überzeugungen bestimmen, wie wir auf die Konflikte reagieren, z.B. mit großer Empfindlichkeit, Rückzug, Kampf, Hilflosigkeit usw. Meist verurteilen wir, dass wir so handeln, denken und fühlen. Wir nehmen uns vielleicht vor, uns zu ändern, aber es will nicht gelingen. Wie es doch gelingen kann, besprechen wir in diesem Workshop.

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Intensiv-Seminarwoche: „Wie können grundlegende Gefühlsirrtümer erfasst und verändert werden?“

Liebe Interessierte und Freunde
 
Ich freue mich, Sie zu einer Intensiv-Seminarwoche zum Thema „Wie können grundlegende Gefühlsirrtümer erfasst und verändert werden?“ einzuladen.
 
Die Woche findet vom Samstag, 8. 10. bis Donnerstag, 13. 10. 2022 in Herrliberg statt.
Ort: Familienclub Robinson, Schulhausstrasse 41 mit grosser Küche und Möglichkeit zu gemeinsamem Kochen.
Der Bus Linie 972 vom Bahnhof Herrliberg hält direkt vor dem Gebäude (Station Schulhaus, 27 Min. ab HB Zürich mit der S6 oder S16)
 
Wir besprechen, wie festsitzende und hartnäckige maladaptive Grundüberzeugungen, verfehlte unbewusste Gefühle und Lebensfallen erkannt, psychologisch erfasst und durch passendere Gefühlslagen ersetzt werden können, um freier und verbundener zu leben.
 
Sehr oft deuten wir andere Menschen falsch, sei es in Partnerschaften, bei der Arbeit, bei Freunden, in der Öffentlichkeit. Wir sind so überzeugt von unserer Wahrnehmung der Welt, dass wir es schwer haben, überhaupt Fragen zu stellen oder die richtigen Fragen zu stellen. Wir unterschätzen, dass wir sehr oft genau zu wissen glauben, wie das Leben zu bewältigen ist.
 
Mancher bekommt einen Schreck vor dem Zukünftigen, genau dann, wenn die Beziehung schön ist. Man manövriert sich unbewusst in ein Gefühl der Trauer, des Ärgers, der Wut oder der Empfindlichkeit, so dass man streiten kann und die Beziehung gelockert wird. Die Angst vor Ablehnung ist zu gross.
 
Oder man hat sich unbewusst vorgenommen, im Leben immer fehlerlos dazustehen und tut alles dafür: man lenkt ab, spielt sich auf, zieht sich aus dem Leben zurück, oder wird depressiv oder hält Distanz zu allen Menschen.
 
Oder jemand will unbedingt etwas darstellen, und muss deshalb andere abwerten, die auch etwas können oder wird ganz schüchtern im Warten auf die richtige Gelegenheit.
 
Oder man will ganz perfekt sein und engt sich deshalb auf einen kleinen Bereich des Lebens ein, wie richtig essen oder richtig gekleidet zu sein oder immer korrekt reden oder spontan zu sein.
 
Wenn wir uns unter Menschen bewegen, stoßen wir regelmäßig auf Situationen, in welchen Missverständnisse auftauchen oder Spannungen, Enttäuschungen, Ängste, Ärger, Einsamkeitsgefühle, Selbstzweifel oder Traurigkeit entstehen können, hinter denen meist unbewusste Ziele stehen.
 
Wenn wir nicht zum Leben passende, unbewusste Lebensmelodien erfassen lernen und sie hinterfragen, können wir verbindlichere, verständnisvollere und gleichwertigere Beziehungen entwickeln.
 
Zeiten:
Samstag und Sonntag: 10.00 – 12.00, 14.00 – 15.30, 16.30 – 18.00, 19.30 – 21.00,
Montag bis Donnerstag: 14.00 – 15.30, 16.30 – 18.00, 19.30 – 21.00
 
Seminarleitung: lic. phil. Diethelm Raff (Psychologe), Institut für Psychologische Bildung und Erziehung.
 
Schriftliche Anmeldung gerne bis 30. September 2022. (PDF) (digitales PDF)
 
Seminarkosten: 200 SFr. Bitte überweisen Sie den Betrag auf das Konto des Instituts oder bezahlen Sie am Anfang des Seminars bar.
 
IBAN: CH46 0483 5111 2457 3000 0 Credit Suisse, 8070 Zürich
 
Deutschland: Diethelm Raff, Kreissparkasse Tübingen
IBAN: DE86641500200004587471
BIC: 641 500 20
Swift BIC: SOLADES1TUB
 
 
Ich freue mich auf Ihr/Euer Kommen und auf eine lehrreiche und schöne gemeinsame Woche.
 
 
Herzliche Grüsse
 
 
Diethelm Raff
 
Sie können sich auf der homepage gerne für den Infoletter anmelden

Termine 2022 und weitere Einladungen zu kommenden Seminaren:

Categories: Aktuell

« Zögern – Hinausschieben – Vertagen: Was tun?»

« Zögern – Hinausschieben – Vertagen: Was tun?»

Vortrag von lic. phil. Diethelm Raff, Psychologe.

Viele Menschen leiden darunter, dass sie nicht ausdauernd, konzentriert und schnell genug vorankommen können, sogar bei Tätigkeiten, die ihnen eigentlich gefallen oder die unbedingt gemacht werden müssen. Viele haben einen Plan gemacht, die Zeiten aufgeteilt, Pausen eingebaut, genau überlegt, was zuerst kommen soll und was später, haben sich mit anderen abgesprochen und die Arbeit in kleine Einheiten aufgeteilt, die Essenszeiten bestimmt und doch klappt die Sache nicht. Zum Beispiel sollte ein Text abgegeben werden, aber es geht nicht vorwärts, weil man an den Worten herumfeilt, erst noch den Anfang des Textes verbessert anstatt weiterzuschreiben, unbedingt noch schnell das sms beantwortet, den Tisch erst aufräumen muss, noch etwas zu trinken braucht, die Nägel feilen muss, die Brille putzen, mit dem Kollegen noch kurz schreiben, ein Filmchen schauen oder ein paar Pilates-Übungen machen, ein bisschen Musik hören, um in eine bessere Stimmung zu kommen, vielleicht auch noch kurz etwas einkaufen oder sogar etwas backen und zum Schluss wird einer müde und schläft kurz seinen power-nap oder unterstreicht erst mal das Wichtigste bevor es weitergeht oder liest noch etwas in Wikipedia zu einem angrenzenden Gebiet.

Aber man kann sich auch erst gar nicht an die Sache hinsetzen, weil es noch viele wichtige Dinge vorher zu tun gibt: Blumen giessen, die Ferien vorbereiten, Maschine ausräumen oder einräumen, sich über Sonderangebote informieren, gesund kochen – was leider etwas länger braucht- , aber dafür gut für die Konzentration ist.

Es kann aber auch sein, dass man sich, bevor man anfängt, schon Gedanken macht, was alles auf einen zukommt und sich hintersinnt und schlechte Stimmung aufbaut, so dass man seine Aufgabe lieber auf den nächsten Tag verschiebt, an dem man hofft, eine bessere Stimmung oder schöneres Wetter vorzufinden. Oder man verschiebt die Arbeit auf eine andere Tageszeit, in der der Biorhythmus besser sein soll. Man kann sich lange fragen, ob etwas nicht zu schwer ist, kann sich trösten lassen von anderen und sich gute Ratschläge holen – ohne anzufangen.

Fast jeder und jede weiss, wie gut man sich ablenken und immer gut begründen kann, warum man jetzt nicht anfängt oder nicht weitermacht. Viele lehnen sich zusätzlich dafür ab, dass sie nie ideal vorankommen. Die einen sind froh, wenn sie im home-office nicht so stark kontrolliert werden oder ärgern sich, dass man sich alleine antreiben soll, andere quetschen sich im letzten Moment noch gekonnt viele Informationen zusammen oder haben am Schluss einen klaren Kopf in der sicheren Überzeugung, dass es doch noch ganz gut geworden ist – angesichts der knappen Zeit. Und andere enden mit einer grossen Nervosität, nachdem die «deadline» immer näher gerückt war und es kein Entrinnen mehr gab, dass etwas fertig werden musste und dafür auch eine Nachtschicht herhalten musste.  Manche wollen dann dieses Hinausschieben oder Prokrastinieren, diesem mangelhafte Zeitmanagement oder falscher Prioritätensetzung damit begegnen, dass man sich genau an eine Vorgabe hält. Manchmal hilft das auch, oft aber auch nicht.

Psychologisch gesehen geht es auch in diesem Verhalten vorrangig darum, was für Haltungen zum Leben dieses Hinausschieben und Verzögern ausmachen. Wir können dies bei jedem Einzelnen in seiner Lebensgeschichte nachvollziehen, die dazu geführt hat, dass man das Leben teilweise und unbewusst auf eine untaugliche Art anpackt.

So kann es sein, dass sich jemand immer damit beschäftigen muss, alles zuerst darauf zu untersuchen, ob eine Aufgabe schnell zu machen ist. Kann er es sicherlich nicht schnell genug machen, vergeht ihm die Lust, wird müde, lässt sich ablenken.

Ein anderer freut sich an jedem kleinen Erfolg und verbleibt dabei, womit er verhindern kann, dass befürchtete Misserfolge eintreten. Ein Dritter zögert, die Ausbildung abzuschliessen, weil er sich das Berufsleben nicht vorstellen kann. Ein Vierter hat Erfolg beim anderen Geschlecht oder bei Freunden, ist besser geübt, doch ist er angespannt, sobald er eine Aufgabe alleine lösen sollte, weil er da nie sicher ist, ob es gut geht. Ein Fünfter hat Angst vor Kritik und vermeidet es, dass er einen Fehler machen kann und schiebt deshalb alles hinaus. Ein Sechster sucht ständig danach, ob ihm jemand etwas abnehmen kann, weil er das besonders gut erlebt.
Wenn wir also einen Ausweg für dieses Zögern und Hinausschieben finden wollen, müssen wir die individuellen Gründe dafür herausarbeiten und sie hinterfragen.

Wir werden im Vortrag ausführlich Gelegenheit haben darüber zu sprechen.

Weitere Vorträge 2021:

5. Okt: Wie überwindet man die Ungeduld als Erzieher und als Lehrperson?

9. Nov: Schüchtern – zurückhaltend – vorsichtig: Auswege

7. Dez: Wie kann mehr Lebensmut als Grundlage von Glück und Zufriedenheit entstehen?

Categories: Aktuell Vorträge

«Mr. Church» (2016), 106 Min

«Mr. Church» (2016), 106 Min

Regie: Bruce Beresford

Der Film «Mr. Church» aus dem Jahr 2016 über gefühlvolle Freundschaften basiert auf der Kurzgeschichte The Cook Who Came To Live With Us (2011) von Susan McMartin, die auch das Drehbuch für den Film geschrieben hat, das wiederum von ihrer eigenen Geschichte handelt.

Dieser unaufgeregte Film ohne Action, Sex and Crime legt in einfühlsamer Weise dar, wie sich innige Beziehungen entwickeln können, mit welcher Art des Umgangs man sich geborgen fühlen kann und wie solcherart Beziehungen trotz aller Schwierigkeiten im Leben den Menschen zuversichtlich stimmen können und daraus ein sinnvolles Leben entsteht. Es wird deutlich, dass man sich innerlich verbinden kann, wenn man sich in andere hineinversetzt, sie dadurch versteht, anderen dadurch das Leben erleichtern und ihnen in richtiger Art und Weise behilflich sein und daraus eine Genugtuung ziehen kann. Genauso kann man sich innerlich verbinden, wenn man sich in seinem Wesen erfasst und gemeint fühlt, nicht verurteilt wird trotz Dummheiten, nicht auf seine Fehler festgenagelt wird und sicher ist, dass die Beziehung trotz Turbulenzen hält und ein anderer einem verständnisvoll und freundschaftlich begegnet.

Der Film zeigt eine gefühlvolle, alleinerziehende Mutter, die an Krebs erkrankt ist und die vertraute Beziehung zu ihrer Tochter. Ihr kürzlich verstorbener Ex-Partner bezahlte einen Koch und Betreuer für Mutter und Tochter. Dieser spinnt in feinfühliger Art und Weise nach und nach einen Faden zu Mutter und Tochter und überzeugt die Tochter davon, dass es ein schönes Leben ist, wenn man sich für den anderen einsetzt, zum Beispiel immer sehr gerne für andere kocht und als Gärtner seine Kräuter mit Liebe pflegt und für den anderen da ist. Der Koch begeistert die Tochter auch nach und nach fürs Lesen von klassischen Werken. Nebenbei zeichnet er sehr gut und arbeitet als Jazzpianist. Er wird zu einem grossen Vorbild für sie, weil er behutsam auf sie zugeht, unaufgeregt und konstant im Gefühl und Verhalten ist und sich ihr ganz annimmt und sie im Auge hat. Nach ihrem Studium kommt sie schwanger wieder zu ihm und die freundschaftliche und innige Verbindung zwischen Schwarz und Weiss geht weiter. Er war für sie die Welt, in der sie sich durch ihn und auch nach dem Tod der Mutter vertraut, geborgen und aufgehoben fühlen konnte.

Es zeigt sich, dass der Koch in dieser Freundschaft genauso viel erlebt und sich in einer Familie nach und nach zu Hause fühlt. Er überwand in diesem gemeinschaftlichen Miteinander seine gewalttägigen, ablehnenden Erlebnisse mit seinem Vater, die ihn zu einem einsamen Menschen gemacht hatten, der nicht gewusst hatte, wie man sich zugehörig fühlen und wie man aneinander Freude haben kann, was das Leben lebenswert macht.

«Innere Unruhe – Nervosität – ADHS: Ursprünge und Auswege?»

«Innere Unruhe – Nervosität – ADHS: Ursprünge und Auswege?»

Schon vor 100 Jahren hat der Tiefenpsychologe Alfred Adler eine fundierte Abhandlung über den nervösen Charakter geschrieben und im weiteren anhand verschiedener Fallbeispielen in seinen Büchern «Kindererziehung» und «Technik der Individualpsychologie 2» erläutert, was hinter mangelnder Konzentration, mangelnder Aufmerksamkeit, Nervosität, Unruhe oder Verträumtheit stehen kann.

Ein Kind deutet die Erlebnisse in den ersten Lebensjahren nach einer eigenen Logik, mit der es das ganze Leben spontan und unbewusst versucht zu beurteilen. Die eigene Art zu leben folgt diesem mit Emotionen und Gedanken abgesicherten Lebensentwurf. Das Kind bildet sich ein unbewusstes Ziel, wie es meint, gut leben zu können. Kann es dieses Ziel vermeintlich oder tatsächlich nicht erreichen, so gerät es in Stress. Dann versucht es mit allen tauglichen und untauglichen Mitteln, dieses doch zu erreichen. Je aktiver und sicherer es ist, was es erreichen will, umso stärker. Es kann dabei sogenannt extrem unruhig, hyperaktiv werden, impulsiv sich wehrend gegen die scheinbar falsche Welt, deshalb auch unaufmerksam und unkonzentriert oder zurückgezogen verträumt. Dauert diese Unruhe, Impulsivität und verminderte Aufmerksamkeit durchgehend länger als 6 Monate und ist in 2 bis 3 Lebensbereichen vorhanden, sprechen heute einige von einem ADHS. Man nimmt an, dass 5 – 8% aller Kinder sich in einem solchen – unverstandenen – Zustand befinden. Interessanterweise stellt man jedoch fest, dass diese Stressreaktionen plötzlich nicht vorhanden sind, wenn ein Kind sich für eine Sache interessieren kann, es also glaubt, dass es erfolgreich sein kann.

Erlebt ein Kind zum Beispiel, dass es sich wohlfühlt, wenn es von liebenden Eltern umsorgt wird, ohne dass es sich selbst aktiv beteiligt, kann es sich vernachlässigt fühlen, wenn es diese Art der liebevollen Zuwendung nicht mehr in gleichem Masse bei der Geburt eines Geschwisters oder bei anderen Kindern oder in der Schule erhält. Es versucht unbewusst, die ursprünglich erlebte Gefühlswelt wieder herzustellen. Gelingt das nicht oder nicht vollständig, kann es nervös werden, sich dagegen auflehnen, heftig oder wütend werden, motorisch unruhig werden oder sich zurückziehen, wenn es in seiner Not nicht verstanden wird.

Durch jahrzehntelange Forschungstätigkeit weiss man inzwischen, dass bei diesem Stressvorgang weniger Dopamin, Serotonin und Noradrenalin vorhanden sind und dafür mehr Cortisol.

Leider leiten viele aus diesen bahnbrechenden Erkenntnissen fälschlicherweise ab, dass diese Veränderungen sogenannter Neurotransmitter die Ursache des Problems darstellen, die man durch Zufuhr verschiedener Mittel wieder verändern will.

Ich vertrete im Vortrag die Überzeugung, dass jedes Kind mit diesen langdauernden Stressreaktionen nicht einfach unter einer Reizüberflutung leidet, sondern sein Leben mit fehlangepassten (maladaptiven bzw. dysfunktionalen) Mustern zu bewältigen versucht, daran scheitert und deshalb gestresst ist. Unsere Aufgabe ist es deshalb, diese falschen Annahmen über das Leben und die verfehlten Gangarten zu erkennen und mit dem Kind zusammen die realitätsangepassten Lebensziele und Gefühlsübezeugungen zu entwickeln.

Weitere Vorträge 2021:

14. Sept: Zögern – Hinausschieben – Vertagen: Was tun?

5. Okt: Wie überwindet man die Ungeduld als Erzieher und als Lehrperson?

9. Nov: Schüchtern – zurückhaltend – vorsichtig: Auswege

7. Dez: Wie kann mehr Lebensmut als Grundlage von Glück und Zufriedenheit entstehen?

Categories: Vorträge

„Wie entsteht die Art und die Intensität des sexuellen Empfindens – die Bedeutung der Erlebnisse mit den Menschen in den ersten Lebensjahren.

Viele Menschen fragen sich, warum sie sich nicht verlieben oder immer in Menschen, mit denen sie sich nicht verstehen können. Andere merken, dass sie nur in einer flüchtigen Begegnung eine sexuelle Erregung erleben können. Häufig sind falsche Vorstellungen über die Sexualität so gross, dass grosse Schwierigkeiten sichtbar werden, sich in der Sexualität ganz hinzugeben. Oft spielt Angst mit, in vielerlei Hinsicht nicht zu genügen, wegen dem Aussehen oder wegen der Art, sich zu geben. Bei vielen lässt das sexuelle Verlangen nach kürzerer oder längerer Zeit in einer Partnerschaft nach. Wir gehen der Frage nach, wie gerade im intimsten Bereich die Erlebnisse mit den Menschen in den ersten Lebensjahren das sexuelle Empfinden bestimmen.

Categories: Aktuell